Splitter

Wir fahren zum Parkplatz nach Ströden. Hannah löchert mich, sie will ein Mal mit der Pferdekutsche zur Islitzer Alm fahren. Ich gebe ihr nach. Da wir ja noch weiter bis zur Clarahütte wollen, macht es Sinn, ein Stück Weg abzukürzen! Glücklicherweise müssen wir nicht lange auf die Kutsche warten. "Wo kommt ihr denn her?" fragt der Kutscher. "Köln!" sage ich, "Wien" und "Nürnberg" die anderen. "Kinder dürfen auf dem Kutschbock sitzen!" Hannah strahlt. Langsam, sehr langsam zockeln wir über den Fahrweg los. Es holpert und ruckelt, als die Räder über den steinigen Boden rollen. Der Hund des Kutschers verbellt ein paar Kühe - netter Touristen-Gag! Die Kühe bewegen sich zwei Meter und stehen dann wieder stoisch im Gras. Die Pferde trotten ungerührt weiter. Als es steiler wird, springt der Kutscher ab und geht nebenher, als ob das eine Erleichterung wäre...

Beim "Johannes" trinke ich noch einen Kaffee, dann brechen wir auf. Den Umbal-Schaupfad kennen wir ja schon und schaffen ihn diesmal in 30 Minuten! Wenn das kein Fortschritt ist! Ich bin nahezu euphorisch! An dem Plateau machen wir eine kurze Rast und dann geht es steil hinauf. Die Steilstrecke ist nicht allzu lang, aber schweißtreibend! Die Sonne knallt heiß auf den Staub. Ich hechele schon wieder, Hannah stöhnt! Eine Frau kommt uns entgegen - und ich wundere mich. Muss die früh aufgebrochen sein, wenn sie jetzt schon wieder zurückkommt. Wir sagen brav "Grüß Gott", als sie herankommt, sie bleibt stehen. "Ich bin umgekehrt", sagt sie. "Mein Mann geht allein weiter, ich kann nicht mehr! Ist mir zu steil!" Sie kommt aus Berlin, das hört man! Mir sinkt das Herz in die Hose - und gleichzeitig erwacht in mir ein unbändiger Ehrgeiz. Ich will da hoch, denke ich. Ich gebe nicht auf!

Zehn Minuten später streikt Hannah und behauptet, sie könne nicht mehr. Kaum zu glauben! Ich rede sie weiter - immer bis zum nächsten Baum, der ein wenig Schatten auf den Weg wirft. Ein Stück weiter rasten wir auf einer provisorischen Bank - ein Brett auf zwei Steinen. Ich spüre etwas an meiner linken Hand: Ich habe mir einen kleinen Splitter eingefangen. Nicht schlimm. Ich drücke ein wenig daran herum, er kommt nicht 'raus. Hannah ist ganz besorgt - ich glaube, sie hofft, dass wir jetzt umkehren! "Ein Splitter", ruft sie aufgeregt, als eine Familie mit einem Fünfjährigen herankommt. Die Frau ist sofort an meiner Hand. "Gib mir mal dein Taschenmesser", wendet sie sich an ihren Mann. Er klappt die Pinzette herunter, wir drücken und zupfen - doch erst nach einer ganzen Weile ist der Splitter draußen. Ich bedanke mich bei den Leuten - und weiter geht es!

Der Steilhang ist biestig und schlaucht uns, ich muss Hannah noch oft vorwärts reden. Aber dann wird es fast eben. Rechts und links von der Isel, über die eine stabile Brücke führt, blumenübersäte Wiesen, mit dicken Felsbrocken durchsetzt. Überall rasten Leute in der Sonne. Wir bleiben einen Augenblick auf der Brücke stehen und schauen ins Wasser. Hinter der Brücke schlängelt sich ein schmaler Pfad den Hang hinauf. Unten über der Isel ein dickes Schneefeld. Vor uns glitzert weiß die Rötspitze (3495 m). Hannah geht voraus, ich mit meinen Wanderstöcken hinterher und spüre förmlich, wie mein Gehirn die Glückshormone ausschüttet. Ein herrlicher Weg! Oben die blühenden Pflanzen (Fingerhut, Eisenhut, Teufelskralle, Orchideen-Arten), unten glitzert der Bach.

Wir biegen um einen Felsen - und bleiben wie angewurzelt stehen! Ein Wasserfall! Der Reggenbach fällt vom Steingrubenkopf herunter - mitten über den Weg. Über das Wasser führen drei Bretter - ohne Geländer! Rechts tobt das Wasser, links geht es steil zur Isel hinunter. Traue ich mich da hinüber? Mir wird ganz mulmig. Ich muss gehörig meinen Verstand bemühen und mir vorbeten, dass es wirklich ziemlich unwahrscheinlich ist, ausgerechnet auf diesem Meter Bretter die Balance zu verlieren. Ich hole tief Luft, setzte meinen Schuh fest auf das Brett und gehe los. Geschafft. Hannah zögert - und folgt mir. Später kommen wir an ein von Kühen getretenes Schlammloch, ein Stück des Pfades ist abgebrochen und wir müssen über einen dicken Stein und den Wiesenhang klettern. Das kostet mich wieder Überwindung - aber es klappt. An einem großen Felsen treffen wir die "Splitterfamilie" - sie gibt auf und kehrt um. Es geht schon auf drei Uhr zu - und die Frau hat Bedenken. Ich sehe Hannah an - auch sie will weiter!

Als die Hütte nach einer Biegung nah vor uns liegt, könnte ich wieder Rad schlagen vor Begeisterung - obwohl ich ziemlich erledigt bin. Wir machen das Gatter auf, ich grüße kurz einen Mann, den ich am Abend zuvor beim Islitzer gesehen habe. "Sie müssen sich eincremen", sagt er trocken und weist auf meine linke Schulter. Er hat recht! Ich bestelle ein Radler und eine Brettljause. Es dauert gut eine halbe Stunde, ehe mir auch die Zigarette wieder schmeckt.

Hannah drängt es zu einer Holzkuh mit Gummizitzen, aus denen sie Wasser in einen Eimer abzapft. Nebenbei malt sie das Holzteil mit Fingerfarben an. Kinderbelustigung auf der Hütte! Für einen vollen Eimer gibt es einen Bleistift, dick wie ein Ast und 30 Zentimeter lang! 

Ich beobachte drei Bergsteiger, die zur Kleinen Philipp-Reuter-Hütte (2677 m) aufbrechen, dort übernachten und auf dem nächsten Tag auf die Rötspitze wollen. Nicht, dass das für mich in Frage käme, aber trotzdem begleiten sie meine Bewunderung und ein Stückchen Sehnsucht. Später beobachte ich drei ältere Männer beim Kartenstudium, die auf der Clara-Hütte übernachten und noch nicht so ganz genau wissen, wo sie hinwollen. Sie haben Schwierigkeiten mit der Karte, stelle ich amüsiert fest. Sie tun aber so, als seien sie schon mit Bergstiefeln geboren!

Ich hänge meinen Gedanken nach - und stelle plötzlich fest, dass der Himmel sich ziemlich zugezogen hat. Wir sind fast die letzten auf der Hütte, die nicht dort bleiben. Also packen wir unsere Rucksäcke und machen uns eilig auf den Rückweg. Ich muss Hannah antreiben, was auf dem Pfad kein Problem ist, aber auf dem Steilstück jault sie wie meine Knie. Als wir wieder gegenüber dem Schleierfall rasten, trinkt sie fast einen Liter Isostar aus - und dreht entsprechend auf. Als wir um kurz nach sieben auf der Islitzter Alm eintreffen, ist es ganz schön kalt geworden. Johannes erklärt sich bereit, uns noch etwas zu essen zu machen - und kündigt an, er werde uns nach Hibi fahren. Total nett!

Ich unterhalte mich noch eine ganze Weile mit ihm und erfahre so, dass die Steine, auf denen vor der Hütte, die eigentlich ein Restaurant ist, immer die Kinder herumtoben, Produkte einer Kunstaktion sind. Bildhauer aus Japan, USA, Österreich und Deutschland haben sich dort in Stein verewigt - eine Initiative des Prägratener Tourismusverbandes. Was fehlt, sind ein paar erklärende Tafeln, denn ohne weitere Information verpuffen die Kunstwerke als Kinderspielgerät. Schade. Hannah hat sich derweil in den Stall geschlichen, beim Melken geholfen und einem Kälbchen die Flasche gegeben.

Bis fast Mitternacht turnt sie äußerst kregel herum - kein Wunder nach dem Liter Isostar. Ich bin müde - aber sehr zufrieden.

Zum 7. Tag

Tag6: 16. Juli

Kutsche zur Islitzeralm

 

 

 

 

Altschnee über der Isel

 

 

 

Clarahütte (2035 m)

 

Steg am Wasserfall

 

Rötspitze(3495 m)