Almrauschen

Ich habe mir den Wecker gestellt und bin müde, als er losdröhnt. Trotzdem wache ich sofort auf - heute ist mein Tag! Sajathütte! Ich begehe meinen Balkon, seltsamerweise ohne Zweifel, dass mir das Wetter erneut einen Streich spielen könnte! In der Tat - es sieht freundlich aus. Nicht gerade azurblauer Himmel - aber Regen ist auch nicht zu erwarten!

Ich bin früher als je zuvor beim Frühstück unten. Keine Spur von Pidder und Gabi! Ich staune. Sollte ich die Frühaufsteher geschlagen haben? Ich habe! Ich laufe vors Haus und schaue zum Sajatkar hoch. Wolken! Zumauern, denke ich schon - und entwickele im Nu Ängste, es könnte wieder nicht klappen! Morgen fahren wir definitiv nach Hause. "Ich gehe notfalls allein!", denke ich mutig und richte meinen Blick erneut aufs Sajatkar. Nein, Vertrauen flößt mir der Anblick nicht ein! Dicke, dunkle Wolken! Ich stehe noch einen Moment unschlüssig da - dann beschließe ich, erst ein Mal zu frühstücken!

Gelassen sitzen die Frühaufsteher plötzlich am Tisch. "Gehen wir heute?" frage ich aufgeregt - ich gebe es ja zu, ich würde schon lieber mit den beiden.... "Ja!", ringt sich Pidder so früh am Morgen überraschend klar ab, "Wir gehen!" Sofort erfasst mich diese heiße, helle Freude - und ich muss mich selbst zur Ordnung rufen. Katinweg, haben wir verabredet - und vor dem Weg habe ich Respekt!

Es fängt gut an! Hannah hat ihren Hut vergessen, und ohne Hut läuft gar nichts! Wir fahren also zurück - und es dauert endlos, bis Hannah mit ihrem weißen, mit Wandernadeln gespicktem Hut wiederkommt! "Können wir jetzt?" fragt Pidder genervt - und ich lasse in meinem Kopf alle erdenklichen Eventualitäten abspulen, die ihm noch sein Vergnügen rauben könnten - mir fällt aber nichts mehr ein! "Ja"! sage ich, "auf geht's!" Ich bin wütend auf mein vergessliches Kind und wütend auf mich selber! Ich hätte ja wirklich dafür sorgen können..... Dann reiße ich mich zusammen. Herrgott, Kinder sind eben nicht perfekt - und Bergneulinge auch nicht! In Gedanken stricke ich mir zusammen, dass er wahrscheinlich damit rechnet, dass er umkehren muss - weil ich auf halbem Weg schlapp mache! Nee, denke ich, den Triumph gönne ich ihm nicht!

Es wird trotzdem furchtbar! Der Katinweg hat es in sich! Gabi geht da hoch, als wäre es ein Spaziergang - und mein Kind direkt hinter ihr her. Pidder muss auch ab und zu nach Luft schnappen - immerhin! -, aber natürlich kein Vergleich mit mir! "Geh du doch vor mir!" fordere ich ihn auf - mir macht es nichts aus, das Schlusslicht zu sein! Er bleibt hinten.

Ich muss pausieren, ich muss etwas trinken, eigentlich brauche ich eine Pause von mindestens 15 Minuten, lieber 30 Minuten! Wir machen eine Pause, aber für mich viel zu kurz. Ich schwanke eine Weile zwischen Ehrgeiz und Unvermögen - und dann finde ich endlich zu mir selbst zurück! Ich will die Hütte erreichen - kein Zweifel, aber ich lasse mich nicht unter Druck setzen. Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick ins Tal schweifen. Dabei hole ich Luft. Aber ich genieße auch den Ausblick. So, denke ich trotzig, wenn du unbedingt hinter mir bleiben willst, dann akzeptiere auch mein Tempo!

Jetzt bin ich frei - und sofort merke ich, wie mein Hirn wieder Glückshormone ausschüttet. Sajathütte! Mein Traumziel! Unmerklich straffen sich meine Muskeln, und ich schreite nachgerade kühn nach oben. In Gedanken bete ich mich von Kurve zu Kurve, beseelt von nur einem Gedanken: Ich will da hoch! Jeder Meter nach oben ist ein Meter weniger zu gehen!

Es wird schlimmer! Ab etwa 2200 Meter wird die Luft spürbar dünner! Ich hab ja nun schon ein bisschen Erfahrung und weiß, dass ich schnell hechele - aber das bedeutet noch lange nicht das Ende meiner Kräfte. Auch hier nicht! Aber das Gefühl, dass die Luft nicht ausreicht, ist neu für mich. Ich strenge mich an - aber es kommt mir vor, als hätte mir jemand die Chance zu atmen genommen!

Es dauert noch lange! Gabi und Hannah haben auf uns gewartet. Sie haben Edelweiß gefunden. Lange schauen wir uns die seltenen sternförmigen Blümchen an, und ich bin dankbar für die Pause. Als wir weiter gehen, sind Gabi und Hannah im Nu weit voraus. Es wird kühl - und Nebel wabert über die Wiesen. Sieht aus, als würden sie tanzen. Ein sehr merkwürdiger Anblick, der meinem Gleichgewichtssinn hart zusetzt.

"Ich hab die Hütte schon gesehen!", sagt auf einmal Pidder hinter mir. Ich gebe keinen Pfifferling drauf. Das kenne ich schon. Zwischen Hütte sehen und an der Hütte ankommen können Welten liegen! Mit - zugegeben - straffer Anstrengung gehe ich weiter - und dann sehe ich sie auch! Ich kann kaum beschreiben, wie heiß jetzt die Freude durch meinen malträtierten Körper fließt! Normalerweise sieht man sie viel früher, erzählt Pidder mir später. Ich bin fast dankbar, dass sie sich so lange in Wolken gehüllt hat. Noch ein paar Schritte - und dann stehe ich vor der Hütte! "Meine" Hütte! Direkt vor mir! Gabi und Hannah sind längst im Inneren verschwunden, und auch hinter Pidder fällt jetzt die Hüttentür zu. Ich ringe immer noch nach Luft, merke aber, wie es langsam besser wird mit dem Atmen. Immer noch stehe ich da - und lese: Sajathütte, 2600 m! Ich habe es geschafft!!!!

Urplötzlich - ich kann es gar nicht verhindern - schießen mir dicke Tränen in die Augen. Freudentränen! Richtig schluchzen muss ich - gut, dass es niemand mitkriegt! Niemand? Ich hab gar nicht gemerkt, dass ein Mann aus der Hütte kommend auf mich zugeht! "Ist ja gut, Madel", sagt er herablassend zu mir, "jetzt hast du es ja geschafft!" "Ja!", sage ich. Und "ja" denke ich! Nie in meinem Leben bin ich stolzer gewesen! Und endlich kann ich mich dem Taumel hingeben, dieser intensiven, alles andere verdrängenden Freude: geschafft, geschafft, geschafft! 

Aus der Hütte kommt Hannah, offensichtlich besorgt, wo ich bleibe. "Ich komme jetzt!", sage ich - aber im Grunde könnte ich noch stundenlang vor der Hütte stehenbleiben. Ich reiße mich zusammen! Stelle meine Stöcke ab, stampfe mit meinen Stiefeln über einen Rost, um den gröbsten Schmutz abzustreifen, und suche im dunklen Hütteninneren nach den anderen.

Da sitzen sie - leicht ungeduldig, weil es lange dauert, ehe die bestellten Getränke auch wirklich am Tisch ankommen. Ich habe weder Hunger noch Durst, bestelle automatisch ein Radler, nur weil ich immer ein Radler bestellt habe. Ich fühle mich völlig unwirklich und habe Mühe, den Gesprächen zu folgen. Irgendjemand fragt mich, was ich essen möchte, ich schaue irritiert auf die Karte und murmele kaum vernehmbar: "Nudelsuppe". Irgendjemand bestellt sie für mich! Ich will gar nichts essen, Nudelsuppe stand ganz oben auf der Karte, das einzige, was ich erkennen konnte. Hannah versucht  mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich kapiere gar nicht, wovon die Rede ist! Sie zuckt die Schultern und wendet sich an Gabi - die versteht alles. Ihr ist keinerlei Anstrengung anzumerken. Ich bin wie in Trance - und fühle mich merkwürdig!

"Prost!" dringt es wie über Watte an mein Ohr. Gabi und Pidder halten mir ihre Schnäpse entgegen, vor mir steht auch einer. "Schnaps, jetzt?" frage ich völlig blöde - und Gabi kommt mir zu Hilfe und erklärt, das sei gut für den Kreislauf. Bei dem Stichwort stelle ich fest, dass ich wirklich nur noch auf äußerster Sparflamme laufe. Dankbar kippe ich den Obstler in mich hinein. Schnaps bin ich nicht gewöhnt - und ich habe noch nie erlebt, dass so ein Stamperl völlig spurlos an mir vorüberging! Das einzige, was ich spüre, ist, dass ganz langsam meine Lebensgeister zurückkehren. "Mann!", sage ich. Mein erstes Wort seit einer halben Ewigkeit! Wie intelligent!

Egal! Ich versuche, mich zusammenzunehmen, aber ich bleibe wie in Trance. Plötzlich habe ich das Hüttenbuch vor mir - und alle erwarten von mir, dass ich etwas hineinschreibe. Journalisten schütteln so was ja locker aus dem Ärmel! Mein Kopf ist so leer, als hätte jemand da oben gründlich ausgekehrt - und es dauert Stunden, ehe ich mir drei Sätze abringen kann. Was ich da geschrieben habe, weiß ich nicht mehr. Beim besten Willen nicht! 

Es regnet, als wir in Richtung Timmeltal und Bodenalm aufbrechen - und ich brauche Stunden, bis ich das Regenzeug aus dem Rucksack geholt habe. Wir gehen schon eine Weile - und dann komme ich endlich wieder zu mir. Überrascht stelle ich fest, dass ich gar nicht mehr nach Luft hecheln muss, schon seit langem nicht mehr. Ich habe mich an die Höhe gewöhnt! Für mich ist das alles noch ein Wunder!

Schafe stehen am Weg. Hannah ist begeistert und will sie streicheln - aber die Tiere weichen nach oben aus. Gleich drei oder vier von ihnen fangen gleichzeitig an zu pinkeln. Das klingt fast wie einer der tosenden Wasserfälle! "Almrauschen!" sagt Pidder - und endlich kann ich wieder herzhaft lachen! Ich bin in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Wurde auch Zeit, finde ich. Das "Almrauschen" wird später noch zu einer Quizfrage. Niemand kommt natürlich darauf, dass pinkelnde Schafe Almrauschen erzeugen!

Mit einem Mal fühle ich mich leicht und gut! Ich war auf der Sajathütte, zieht mir noch einmal blöde durch den Kopf. Aber nun bin ich wieder richtig gepolt und kann mich zusammennehmen. Auf der Bank, da, wo der Weg auf den vorderen Sajatkopf abzweigt, den wir natürlich nicht gehen, fangen wir an zu jodeln. Nicht so perfekt wie der Poet natürlich, eher albern. Wir gönnen uns noch einen Kreislaufobstler - danach wird es noch alberner! Macht aber nichts, wir haben Spaß!

Langsam steigen wir ins Timmeltal hinab, wo mich das Pfeifen der Murmeltiere aufschreckt. Eines sehe ich wie einen Schatten dahinhuschen, dann pfeift es wieder. Oben im Tal steht die Eisseehütte. Eines meiner nächsten Ziele, wenn ich nächstes Jahr wiederkomme.

Auf dem Kendele machen wir noch eine Pause - und Pidder versucht, mich an Abgründe zu gewöhnen. Am äußersten Rand des Felsens muss ich gelassen stehen und umherschauen. Es ist gar nicht so schlimm. Außerdem zeigt er mir, dass es sich auf Fels ebenso gut gehen lässt wie auf Sand. Ich mache es nach und bin beeindruckt - aber irgendwie traue ich mir nicht! Heute ist ein Tag, der mich an meiner Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln lässt! Immerhin schmecken die Gröschtl, die ich mir auf der Bodenalm bestelle, so wie Gröschtl immer schmecken. Gut nämlich, sehr gut! Und allmählich fange ich an zu glauben, dass ich nichts geträumt habe! Ich war auf der Sajathütte!

Den Rest des Wegs bis nach Bichl schaffe ich auch noch! Ich bin zwar müde, aber noch nicht am Ende meiner Kräfte. Als wir am Gästehaus ankommen, muss ich mich kurz vors Haus setzen, weil mir die drei Stiegen bis ins Zimmer dann doch unüberwindbar vorkommen. Ich bedanke mich bei Pidder und Gabi für ihre Geduld! "Wieso?" fragt Gabi, "so langsam warst du doch gar nicht, gut drei Stunden bis zur Sajathütte, das ist doch richtig gut!"

"Drei Stunden, 40 Minuten!" Pidder scheint in allen Lebenslagen am liebsten die Zeit zu messen! "So gemütlich bin ich noch nie auf die Sajathütte gestiegen!" Ich ärgere mich kurz über ihn - aber dann denke ich nach. Drei Stunden sind auf dem Wegweiser angeschrieben, wir haben nur 40 Minuten länger gebraucht. Für ganz andere, wesentlich weniger anstrengendere Wege haben wir schon ein- bis eineinhalb Stunden länger gebraucht. Also ein sehr brauchbares Ergebnis, das Training der vergangenen zweieinhalb Wochen hat sich ausgezahlt! Ich bin stolz auf mich, einfach stolz!

Abends bekommen wir endlich Gedichte des Poeten zu hören! Eines in hessischer Mundart über glitschige Seife und ihre Tücken gefällt mir richtig gut. Es ist humorvoll, im Versmaß stimmig und fein beobachtet. Dann beeindruckt der Kerl, den Hannah immer noch mutig "Türke" nennt, uns alle mit dem "König-Johann-Jodler". Er hat das Jodeln wirklich richtig gelernt! Aber ich bin schon zu müde und erschöpft, um das wirklich würdigen zu können. Ich gebe noch eine Runde Schnaps aus zum Abschied - und dann muss ich dringend in mein Bett!

Zum 20. Tag

Tag19: 29.Juli

Sajatkar in Wolken

 

 

 

 

 

 

 

 

Rast - leider nur kurz

 

 

 

 

Edelweiß am Wegrand

 

 

 

Sajathütte (2600 m)

 

 

In der Sajathütte

 

 

 

Schafe am Weg

 

 

Rast am Kendele