Traumtour

Das Kind schläft noch, als ich mich zum Frühstück nach unten schleiche. Wir frühstücken in Ruhe, doch ich kann kaum etwas essen, weil ich aufgeregt bin. Vor der Sajatscharte haben mich Einige gewarnt, weil der Weg durch die Schernerschlucht ein bisschen kritisch sei, andere winkten ab und meinten, das wäre easy. Für mich jedenfalls ist der Weg von der Johannishütte über die Sajatscharte zur Sajathütte und dann hinunter ins Timmeltal ein lang gehegter Traum - und auch eine Herausforderung. Ich freue mich riesig, dass der Himmel in tiefem Blau über Hibi erstrahlt, die Sonne ist noch nicht ganz über den Buckel gekrochen. Wir verabreden uns mit Markus, der auf die Kreuzspitze will, auf der Sajathütte, dann scheuche ich noch schnell Hannah aus dem Bett. Pünktlich um halb neun steigen Pidder und ich am Gasthof Islitzer ins Taxi, das uns zur Johannishütte bringt. Es ist immer ziemlich voll, denn bei schönem Wetter fahren hier auch alle hoch, die tags drauf auf den Großvenediger wollen und im Defreggerhaus übernachten.

In Höhe der Johannishütte (2116m) scheint die Sonne noch nicht, deshalb steigen wir schnell ungefähr 80 Meter höher, wo helle Strahlen die Steine wärmen. Pidder reibt Sonnencreme in seine Haut. Ich hab das schon in der Frühe nach dem Duschen getan und kann mich derweil am Großvenediger satt sehen. Das heißt, satt werde ich eigentlich nie, ich kann den Berg stundenlang angucken - und jetzt, wo ich den Gutschein geschenkt bekommen habe, wirkt er irgendwie näher, aber nicht weniger majestätisch. Ob ich im September wirklich da oben stehe?

"Du bist moralisch für eine anstrengende Tour gerüstet?" fragt plötzlich Pidder, der die Einreiborgie beendet hat. Ich versichere mit fester Stimme, dass ja - und denke: au weia, das kann ja heiter werden!

Wir machen uns auf den Weg nach oben. Anfangs ist der Weg gut zu gehen und auch nicht allzu anstrengend. Doch dann wird es immer felsiger und auch steiler. Große Felsen hängen über dem Weg. Pidder ermahnt mich, auf Kopf und Rucksack aufzupassen. Um einen dieser Steinblöcke muss ich herumklettern, so dass der Hintern fast über dem Abgrund hängt. Das kostet mich doch etwas Überwindung. Ich muss jetzt auch schon ganz schön pusten. Kurz nach dem Abzweig zur Zopetscharte haben wir eine kleine Rast gemacht, die hatte ich auch bitter nötig.

Der Blick ins Dorfertal und auf den Lasörling überwältigt mich fast. Ich muss immer wieder anhalten um zu schauen - und um Luft zu holen. Das Kaiserwetter sorgt für scharfe, dunkle Schatten am gegenüberliegenden Bergmassiv, dass dadurch zum Greifen nah erscheint. Wunderbar ist auch, dass, je höher wir kommen, am Büttenrand immer mehr Weiß auftaucht, das Simony- und das Maurerkees werden sichtbar. Als ich mich nach einer Weile erneut umdrehe, ist schon wieder mehr vom Gletscher zu sehen.

Ein herrlicher Ausblick und Balsam für meine erschöpften Beine. Meine Wadenmuskeln zittern schon leicht, außerdem macht mir die Sonne zu schaffen, die ein wenig sticht. Plötzlich wird mir leicht schwindlig, ich muss anhalten und rufe nach Pidder, der immer vorangeht. "Du willst doch hier nicht etwa umkehren?" fragt er und lacht. Ich bin etwas irritiert, und er erzählt, dass seine Frau vor Jahren an genau dieser Stelle ebenfalls das Weitergehen verweigerte. Doch genauso wie sie damals nehme ich, nach kurzer Pause, mein Herz fest in die Hand. Schritt für Schritt ächze ich weiter. Die gefürchtete Schernerschlucht kann ich schon sehen, und der Anblick flößt mir keineswegs Vertrauen ein. Neben dem schmalen Weg geht es etliche hundert Meter steil in die Tiefe...

Plötzlich sehe ich etwas Weißes blitzen. Ich stoppe. Das sieht wie ein Schneefeld aus. Noch ein paar Schritte, dann stehe ich neben Pidder und sage nur noch "Nein!" Und noch mal: "Nein!"

Der Altschnee liegt - eigentlich malerisch - dicht am Hang, und der ist steil. Quer rüber ist die Trittspur derer zu sehen, die dieses "Hindernis" schon überwunden haben. Unvorstellbar für mich. Ich habe Angst! Wenn ich da ausrutsche, ist alles zu spät! Meine Knie fangen an zu zittern, und ich stelle mir vor, wie gut man da runter rutschen kann, das geht bestimmt schnell. Pidder bemerkt mein Zögern und meine Angst. Er dreht sich um und blickt auf den Weg, den wir gegangen sind. "Und das willst du jetzt alles zurückgehen?" fragt er - nicht ganz ernsthaft. Nein, will ich überhaupt nicht, aber auf den Schnee will ich auch nicht. Es ist furchtbar. Pidder sagt nun auch nicht mehr viel. Er hat mir versprochen, dass er klaglos mit mir umkehrt, wenn ich meine, es müsste sein.

Doch daran denke ich jetzt gar nicht, ich denke: Schluss jetzt! Ich will auf die Sajatscharte, also muss ich da jetzt rüber. Ich umklammere meine Stöcke ganz fest, drücke sie in den Schnee. Er ist ziemlich hart. Ich zwinge mich, nicht an das Tal zu denken, das so weit, so furchtbar weit unten liegt. Entschlossen setzte ich einen Fuß in den Schnee. Es ist furchtbar! Dann den anderen Fuß - und wieder den nächsten, ganz langsam. Urplötzlich erinnere ich mich an eine Entspannungsübung während meiner Schwangerschaft: Tief einatmen und bewusst in den Bauch ausatmen, dabei zählen. Ich atme laut und zähle leise, die Gedanken nur beim Atmen und bei den Spuren im Schnee. Nur nie an den Abgrund denken! Schritt für Schritt, immer weiter - es sind bestimmt 50 Schritte, so groß ist das weiße Prachtstück. Erst die letzten drei mache ich schneller - und dann habe ich es geschafft! "Ich hab’s geschafft!!!" brülle ich völlig blöde und lache. Und dann spüre ich sie - diese heiße Freude, diesen Stolz auf mich selber. Unfassbar! Unfassbar toll!

Zurückblickend sehe ich auch, dass es so schlimm gar nicht war! Wenn ich gefallen wäre, hätte ich es vermutlich überlebt, außerdem, warum hätte ich fallen sollen? Findet alles nur im Kopf statt - trotzdem ist Vorsicht auch nicht falsch!

Dagegen ist die Schernerschlucht eher unspektakulär. Ein Weg eben - und gut zu gehen, wie ich finde. Anschließend geht es ziemlich steil bergauf, was mich schlaucht. Ich kriege es gar nicht richtig mit: Plötzlich bin ich auf der Sajatscharte (2750m)! Ich falle auf die Bank. Mir ist ganz mulmig, hier oben fällt alles so steil ab! Mühsam und vorsichtig schäle ich den Rucksack vom Rücken - und schnalle ihn mit dem Hüftgurt an der Bank fest! Reine Ersatzhandlung: Im Grunde habe ich Angst, dass ich hier runterfallen könnte! Eine ganze Weile sitze ich hölzern da, halte mich fest und schaue auf den Boden. Alles steil, wirklich, sehr steil.

Dann erst traue ich mich aufzustehen. Ich gehe ein paar Schritte - und entdecke überwältigt unten die Sajathütte. Das ist ein Anblick! So klein sieht sie aus, schlappe 150 Meter weiter unten! Ich schaue zurück ins Dorfertal, gegenüber auf die Gletscher und dann wieder ins Sajatkar, hin und her. Ganz allmählich wird mir bewusst, dass ich hier etwas genießen darf, das ich nur meinen eigenen Beinen verdanke. Und dann fällt alle Anstrengung von mir ab: Ich freue mich, das heißt, ich bin ganz außer Fassung vor Glück.

Zwischendurch erschrecke ich mich, weil Pidder auf den Steinen herumturnt, als wäre er auf dem Felsenmeer (eine harmlose Steinansammlung im Odenwald) und nicht in 2750 m Höhe! Der zweite Schreck folgt alsbald: Ich muss ja wieder runter! So steil der Weg, so gering das Vertrauen in meine Bergstiefel... Es geht dann doch, muss ja schließlich auch! Trotzdem finde ich es gar nicht gut, dass Pidder plötzlich an einer immer noch tierisch steilen Stelle stoppt. "Da oben ist Markus auf der Kreuzspitze!"

"Quatsch!", sage ich, ich kann nichts erkennen. Pidder holt das Fernglas, wir analysieren den Rucksack und die Farbe der Jacke. Kaum noch Zweifel, es ist Markus. Wir sind in Gedanken bei ihm, gucken während des Abstiegs immer wieder hoch.

Als wir an der Sajathütte ankommen, können wir ohne Jacke im Freien bleiben, so sehr wärmt die Sonne. Wer die Sajathütte kennt, weiß, dass das Seltenheitswert hat: Viel zu oft hängen dicke dunkle Wolken im Kar. "Zumauern!" sagt Albert, unser Wirt, immer ironisch. Heute aber Kaiserwetter, deshalb haben wir einen gigantischen Blick auf die Lasörlinggruppe. Ich sehe die Kohlröserlwiese - hach, da haben Hannah und ich mal Robinson gespielt (und uns einen gigantischen Muskelkater geholt!).

Ich hole erst mal zwei Radler - und dann beobachten wir Markus, wie er unaufhaltsam näher kommt. "Der kriegt ein Radler, wenn er hier einläuft", beschließt Pidder. Das wird noch etwas dauern. Ich gucke mir gerade einen Stein aus, auf dem ich mich bequem mit meinem Radler niederlassen kann, als Pidder plötzlich wie ein Bierkutscher das Fluchen anfängt. "Scheißvieh!" Eine Wespe hat ihn in den Oberarm gestochen, muss 'ne Höhenwespe gewesen sein! Ich biete mich an, in der Küche eine Zwiebel zu besorgen, Zwiebeln verhindern die Schwellung. Er allerdings zieht es vor, mit Zigarettenglut die Schwellung zu verhindern. Plötzlich guckt er ganz komisch. "Ich weiß nicht, ob ich gegen Wespenstiche allergisch bin!" Bei mir läuten Alarmglocken wie vom Straßburger Münster. So was weiß man doch!! Ich überlege: Atemnot, Erstickungsanfall? Er bestätigt den "worst case": Bergrettung - und das schnell!

Ich beobachte ihn wie einen Kinofilm: tut sich was, fängt es an? Er allerdings guckt ins Kar: "Da, Markus rutscht das Schneefeld hinunter!" Ich glaube es kaum. Markus benutzt tatsächlich seine Schuhe wie Skier! Jetzt wird es Zeit, ein großes Radler zu holen. Pidder geht in die Hütte, und ich bin ganz froh: Dort kann er die Bergrettung, wenn nötig, gleich selber alarmieren.

Wir empfangen Markus mit dem Radler - und der freut sich unbändig und nimmt begeistert einen großen Schluck. Ebenso begeistert erzählt er vom Gipfelblick und davon, wie kalt es da oben war! Ich weiß nicht: Männer frieren immer so schnell!

Der Wespenstich ist noch kurz ein Thema ("Wespen auf zwosechs??"), die befürchteten Folgen allerdings bleiben - Gott sei Dank - aus! Wir lümmeln uns noch eine Weile herum in der warmen Sonne, und dann bläst Pidder zum Abmarsch. Ins Timmeltal, zur Bodenalm. Als wir losgehen, schwant mir Übles: Pidder kündigt an, er werde voraus gehen, Markus bleibt hinter mir. Die beiden haben sich abgesprochen!

Und nun beginnt, was ich später als "Hetzjagd ins Timmeltal" bezeichnet habe. Niemand will mir Böses, aber wir haben schon viel Zeit verloren, weil ich im Anstieg eben doch sehr langsam bin. Mir leuchtet ein, dass etwas Eile angesagt ist, aber wohl fühle ich mich nicht. Pidder kann ich kaum noch sehen, der rast schon 100 Meter weiter unten auf den Steg über den Timmelbach zu - und Markus hinter mir hält Abstand und tut immer so, als würde er gerade die Gegend anschauen, wenn ich anhalten und nach Luft ringen muss.

Ich beiße die Zähne zusammen und mache große Schritte. In mir jaulen Muskeln, von deren Existenz ich nie etwas geahnt habe, es tut richtig weh! Aber ich habe ja keine Chance, ich muss immer weiter zwischen diesen beiden fitten Bergsteigern! Zweimal fordere ich Markus auf voran zu gehen, zweimal lehnt er ab. Verdammt! Am Timmelbach verlange ich eine Pause. "Zehn Minuten Maximum!" nimmt Pidder mir jegliche Hoffnung. Später bin ich froh, dass es nach dem Timmelbach wieder ein Stückchen ansteigt.

Auf der Bodenalm sinke ich auf die harte Holzbank, froh, endlich Beine und Füße still halten zu dürfen. Es ist spät, wir essen was, trinken was - und der Weg zum Parkplatz bringt mich dann fast um. Die Stiegen im Gästehaus schaffe ich mit letzter Kraft und dann empfinde ich die Dusche wie ein Geschenk des Himmels. Abends kann ich wirklich nicht mehr schmerzfrei laufen - aber das ist egal: Die Sajatscharte hab ich geschafft! Und das macht mich ungeheuer stolz!

Nachtrag: Die Hetzjagd ins Timmeltal hat mich gestählt fürs Leben! Die Folgen (Muskelkater vom feinsten) haben mich zwar noch ein paar Tage in Schach gehalten, aber inzwischen bin ich im Abstieg deutlich schneller!

Zum 6. Tag

Tag5: 1. August

Der Großvenediger, 3674m

 

 

 

 

 

 

Kaum zu erkennen: der Weg an der Schernerschlucht

 

 

 

Endlich oben: Blick von der Sajatscharte (2750m) auf die [alte] Sajathütte (2600m)

 

Blick von der Sajathütte zur Scharte

Das wilde Sajatkar

 

Bei Ankunft Radler!