Ganz nah am Himmel

Wir frühstücken früh um 7 Uhr und fahren pünktlich um 7:30 Uhr mit dem Kratzer-Taxi zur Johannishütte (2121m). Im Tal war es schon kühl, aber hier oben liegt alles noch im Schatten und es ist eiskalt. Ein gutes Stück weiter oben sehe ich Sonnenflecken auf den Steinen. "Komm Hannah, schnell hoch, in die Sonne!"

Schnell ist hier oben ein relativer Begriff, und es dauert fast eine Stunde, bis wir in die Sonne kommen. Wir suchen uns ein schönes Plätzchen mit Großvenedigerblick und gönnen uns 40 Minuten Rast zum Aufwärmen und für ein 2. Frühstück mit Müsliriegeln. Dann geht es wieder weiter bergan. Steil ist es nicht, aber es geht spürbar höher. Da, wo zum erstenmal das Zettalunitzkees in Sicht kommt, erkennen wir die Stelle wieder, wo Hannah letztes Jahr aufgegeben hat. Diesmal gehen wir tapfer weiter. Damals dachte ich, wir hätten die Hälfte des Wegs zum Defreggerhaus geschafft. Nun müssen wir erkennen, dass es höchstens ein Drittel war. Ungerührt steigen wir weiter, ganz langsam, ich bin noch nicht außer Atem.

Am Mullwitzköpfl biegen wir um eine Felsnase und am Horizont erstreckt sich schneeweiß gegen den tiefblauen Himmel der Gletscher. Der Weg wird steiniger. Zwischen den Steinen entdecke ich Enzian, ein Wunder, dass hier überhaupt etwas wächst! Dann kommt das Defreggerhaus in Sicht. Das heißt, es dauert noch eine Stunde, bis man oben ist. Für uns werden es fast zwei, mir kommt es vor, als mache die Hütte mit uns Schritte. Sie will einfach nicht näherkommen.

Hannah steht völlig begeistert vor einem kleinen See, der völlig unerwartet hinter einem großen Felsen auftaucht. Auf dem Wasser schwimmen Eisschollen! Mir ist heiß! Ein Pärchen, das uns mal überholt und mal zurückbleibt, gibt an dieser Stelle auf. Die Frau - vorher hat sie über meine Schnauferei gelacht - ist nicht schwindelfrei und glaubt, den Weg über die Felsplatten nicht gehen zu können. Hannah ist schon auf den Steinen. Manche wackeln, rundherum viel Geröll - eine ziemlich steinige Region hier oben. Nun erkenne ich den Steilanstieg zur Hütte, noch ein ganzes Stück entfernt - und plötzlich geht mir die Luft aus. Aber wie!

Ich atme tief hinein bis ins Zwerchfell, aber es scheint kaum was zu nützen. Unendlich langsam, Schrittchen für Schrittchen schleppe ich mich weiter, keuchend! Und wieder bleibe ich stehen und denke, verdammt, ich kann nicht mehr, ich schaffe das nicht, warum tue ich mir das an??

Weiter oben sehe ich Hannah, die neben dem Weg in einem Altschneefeld Schneemänner baut. Ich stütze mich auf meine Stöcke und versuche, irgendwie an Luft zu kommen. Mir ist ein wenig schwindlig, ach - und überhaupt nicht wohl. Plötzlich steht Hannah vor mir: "Mama, mir ist so langweilig!" Es haut mich fast den Hang runter! "Das wird", keuche ich, "...wird sich gleich", hechel, "...gleich ändern, wenn ich" ... "umkippe!" Das Kind guckt mich mit runden Augen an. "Komm, Mama, das schaffst du, ich geh vor und du kommst mir einfach nach!" Und schon hüpft Hannah über die Steine. Ich seufze tief und denke bei mir, dass ich mir nicht erlauben kann, schon wieder ohne Erfolgsmeldung von einer Defreggerhaustour zurückzukommen. Also schleppe ich mich weiter über den steinigen und jetzt immer steileren Grund mit den rot-weißen Markierungen. Ich guck nicht mehr zur Hütte hoch, ignoriere meine schweren Beine und die schon leicht zitternden Muskeln und tapere Millimeter für Millimeter weiter nach oben. Auf dem letzten Stück kann ich sie oben schon reden hören, riskiere einen Blick - und erkenne, dass die ganze Horde mich beobachten kann. Oh, Mist! Egal, jetzt schleiche ich schon wie ein Roboter - Hauptsache, ankommen!

Ich komme an! Alles voll da oben, kein Platz auf einer der Bänke. Ich sinke auf einen Treppenabsatz aus Stein, gucke auf den Boden, atme, atme, atme.....

Endlich lege ich vorsichtig die Stöcke aus der Hand, zerre mir den Rucksack vom Buckel (der fällt fast vom Plateau runter), atme, ziehe die Schuhe aus, Socken aus, atme... Nach einer Ewigkeit hebe ich vorsichtig den Kopf - und muss noch mal scharf die Luft einziehen, diesmal vor Begeisterung! Rundherum Gletscher und Gipfel, Gipfel, Gipfel. Ich erkenne links die Weißspitze überm Zettalunitzkees und rechts (im Westen) die Rötspitze, Simonyspitzen, Maurerköpfe samt Kees. Im Süden die Lienzer Dolomiten, ach und dahinter noch mehr Dolomiten, keine Ahnung,was das für Berge sind. Ich kann mich gar nicht satt sehen und spüre, wie es heftig in mir aufwallt. Stolz bin ich, verdammt stolz! Gut, wir haben fast vier Stunden bis hier hoch gebraucht, die lange Pause in der Sonne gar nicht eingerechnet - aber was soll's!

Ich gehe in die Hütte zum Fressschalter. Nein, ich frage nicht, was die Hüttensuppe ist, ich hole zwei große gespritzte Apfelsaft. Anderthalb Gläser trinke ich alleine leer. Kein Wunder, ich hab bei diesem Anstieg wieder viel Schweiß gelassen. Wir haben jetzt einen Sitzplatz auf der langen Bank vor dem Haus erobert und lassen uns von der strahlenden Sonne und dem fantastischen Ausblick wärmen. Massen von Menschen sind hier oben, auch drinnen ist alles voll. Aus allen Richtungen kommen und gehen sie, ich höre sie erzählen. Auch von geführten  Touren: Eine Woche Venediger-Höhenweg von Hütte zu Hütte ist pauschal von Kiel aus buchbar.

Ein buntes Bild: Kletterseile und Karabinerhaken, Eispickel und Steigeisen baumeln von großen Rucksäcken. Hochalpinfreaks, Bergführer und Alleingeher, die aussehen wie aus dem Globetrotter-Katalog. Nebenan fährt die Materialseilbahn ab, drin sitzen dichtgedrängt fünf Bergführer und grinsen auf uns herunter. Ich bin noch wie in Trance. 2962 m - das ist für mich ein neuer Rekord!

Nach etwa einer Stunde atme ich wieder normal - und ziehe meine Stiefel wieder an. Ich will noch eins draufsetzen und die 3000er-Marke überwinden. Hinter der Hütte geht es steil den Berg hinauf, oben sieht man ein Steinmandel, da will ich hin. Ach nee, schon nach wenigen Schritten keuche ich wieder wie gehabt. Aber andere keuchen auch und steigen sehr langsam. Noch ein Schritt - und dann liegt in nachgerade entsetzlich schönem Weiß der Gletscher vor mir! 3040 Meter bin ich hier hoch. Zum Anfassen nah der Großvenediger das Hohe Aderl, das Rainerhorn.

Fassungslos sitze ich auf einer Steinplatte und starre auf den Gletschereinstieg und die Fußspuren, die auf den Gletscher führen. Da soll ich mal gehen? Verdammt, ja! denke ich. Vorfreude steigt auf. Ich ertrinke fast in diesem schwarz-weißen Panorama, hole mir mit dem Fernglas die Fußspuren heran, die Gletscherspalten und den Gipfel. Das Kreuz kann ich nicht sehen! Ich gehe auf dem kleinen Plateau herum, gucke, fotografiere - und dann gehe ich mutig den steilen Pfad zur Hütte hinunter. Gut, dass das Vertrauen in meine Schuhe seit der Sajatschartentour gewachsen ist!

Hannah liegt vor der Hütte in der Sonne und blinzelt träge. Wir gönnen uns noch einen Apfelsaft, dann brechen wir auf. Ich gucke noch mal zurück: Großvenediger, ich komme bald wieder! 

Der Hang vom Haus runter ist etwas steil und felsig, da haben wir ein wenig Mühe und sind nicht so schnell. Ich kriege mit, dass ein paar Leute hinter mir sind und lasse sie lieber vorbei. Hannah ist schon weit voraus. Der letzte ist ein Alleingeher, der war mir schon oben am Haus aufgefallen. Er geht also vor mir, nicht schnell, in sehr angenehmem Tempo. Ich beobachte, dass er sozusagen die Ideallinie nimmt, ein bisschen im Zickzack. Ich mache seine Schritte nach und merke, dass ich ungeheuer Kräfte spare. Klasse! Stillvergnügt folge ich dem Mann und gucke auf seine Füße. Plötzlich bleibt er stehen - und lacht. Sagt was, zeigt mit dem Stock. Ich komme nah heran - und sehe eine Kuh, die alle Viere von sich gestreckt im Gras liegt - sehr kuhuntypisch. Der Mann hat gesehen, wie sie - eine Jungkuh - sich hat fallen lassen, einfach platsch zur Seite und Beine lang. Wir lachen - er geht weiter. Ich folge ihm nach bewährter Manier, Hannah sehe ich ab und zu viel weiter unten. Plötzlich bleibt er stehen, stellt die Stöcke weg und fängt an, aus einem kleinen Wasserfall, der direkt neben dem Weg vom Felsen plätschert, Wasser zu schöpfen.

Weil ich ja manchmal sehr impulsiv sein kann, platzt es aus mir 'raus: "Machen Sie hier eine Pause?" Der arme Kerl guckt völlig irritiert. Es muss ziemlich entsetzt geklungen haben. "Gut", sage ich, "Sie denken jetzt wahrscheinlich, ich spinne, aber ich bin die ganze Zeit saugern hinter ihnen gegangen." Er guckt immer noch ein bisschen komisch, also erkläre ich, dass ich  - ohne große eigene Erfahrung - quasi von ihm lerne und seinen Kräfte sparenden Tritt aufnehme. Bin natürlich höflich, und sage, dass ich jetzt weiter gehe und ihn nicht länger störe.

Nee, nee, sagt er, trinkt noch mal und erklärt sich bereit, meinen Führer zu spielen, wenn ich bereit bin, weiter unten an einem kleinen Bach noch mal Pause zu machen. "Klar!" verspreche ich und sage, das ich das saunett von ihm finde. Wir gehen weiter. Inzwischen wartet Hannah auf uns und fängt direkt an, den armen Kerl voll zu quatschen. Er nimmt's gelassen - und ich mahne sie nach einer Weile zur Mäßigung. Es ist immer noch total angenehm, ihm hinterher zu gehen, und ich bemühe mich, mir zu merken, wie er's macht. Er dreht sich 'rum: "Ist das Tempo so angenehm?" Ich muss lachen und beeile mich zu versichern, dass alles toll ist und er saunett, und dass er natürlich jederzeit wieder alleine.... "Ist schon okay", grinst er. Ich glaube, der fühlte sich auch ein wenig gebauchpinselt!

Dann kommt der Bach mit dem hellen. klaren Wasser. "Haben sie zehn Minuten Zeit für eine Pause?" fragt er höflich. "Ja, gerne", sage ich. Wir laden die Rücksacke ab - und dann sagt er, wir sollen Schuhe und Strümpfe ausziehen und durch den Bach waten. Ich bin ganz verblüfft, dass ich - als altes Wassertier - nicht selber drauf gekommen bin. Gesagt, getan - ich wate vorsichtig in den Bach, stöhne wegen der kleinen spitzen Steine an meinen empfindlichen Fußsohlen. Dann finde ich einen geeigneten Stein, setze mich drauf - und da sitze ich. Mitten im Bach, die Beine ausgestreckt, und die Füße umspült wohlig eine kräftige und eiskalte Strömung. Der Typ hat das Wasser mal gemessen, sagt er - ca. 4 Grad. Die Füße werden ziemlich schnell rot, aber trotzdem ist das tierisch angenehm. Mir wird bewusst, dass ich zum erstenmal in meinem Leben mitten in einem eiskalten Bergbach sitze, und ich finde es einfach wunderbar. Ich sage ihm das. Er geht und holt meinen Fotoapparat vom Rucksack und macht ein Foto von uns - zur Erinnerung.

Der Mann hat ein Optikergeschäft im Fränkischen und ist Mitglied der Alpenvereinssektion, die für die Rostocker seinerzeit die Rostocker Hütte betreut hat. Nach dem Mauerfall machte Rostock das wieder selber, aber dann gab's Knatsch - und nun hat Essen den Rostocker Teil der Hütten aufgekauft und betreut sie alleine. Sie heißt jetzt offiziell nur noch Essener Hütte - aber an der Tür steht immer noch "Essener u. Rostocker".

Nach einer guten Weile ziehen wir wieder Strümpfe und Schuhe an und gehen den Rest bis zur Johannishütte - total erfrischt und ohne jegliche Fußschmerzen. Dort will ich den Mann zu einem Bier einladen als Dank - aber dann kommt das Taxi, auf das schon eine ganze Schlange wartet. Der Fahrer ist Friedl Kratzer, und ich verhandele mit ihm. Das nächste Taxi kommt in zehn Minuten, sagt er - und empfiehlt, es auch zu nehmen, weil eh der Bär los ist und es sonst STUNDEN dauern kann.

Mein "Führer" drängt uns, das Taxi zu nehmen - er selber will zu Fuß runter. Sein Auto steht in Hibi. Gut, sage ich, dann treffen wir uns in eineinhalb Stunden beim Islitzer und dann gibt's das Bier! Okay, sagt er. Und so machen wir es auch. Wir essen und quatschen sehr nett, Hannah erzählt ihm von meinem Großvenedigergutschein, und er sagt, ich soll ihn anrufen, wenn ich's geschafft habe. Ich verspreche es.

Abends sitzt die Gästerunde draußen vor dem Haus. Einer der seltenen Abende, an denen es warm genug dafür ist. Ich bin völlig glücklich und hochzufrieden: meinen 3000er-Rekord, den kann mir keiner mehr nehmen!!!

Zum 16. Tag

Tag15: 11. August

Großvenediger (3674m)

Großvenediger

 

 

Wir haben es geschafft! (Defreggerhaus, 2962m)

 

Von hier aus sieht jeder jeden, der hoch hechelt

 

Großvenediger - der Gletscher

 

 

 

Defreggerhaus von oben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Barfuß im kalten Bach