Die sieben Säulen von Schwabing

Kleinstädte waren Marlenes Leidenschaft, das wissen wir! Aber ab und zu zog es sie doch in die Großstadt, wenn nämlich ihre Neugier siegte! Dazu muss gesagt werden, dass ihre Neugier sie auch getrieben hatte, sich mit den Geheimnissen eines PC's auseinanderzusetzen. Technik war nicht gerade ihre Leidenschaft, aber der in der herrschenden Männerwelt weit verbreitete Seufzer "Frauen und Technik....." regte sie auf. Mit der ihr eigenen kessen Intelligenz tastete sie sich vor - und nach einer Weile gelang es ihr, ihren Rechner zu beherrschen, weitestgehend jedenfalls, und mit ihm in die Weiten der Netzwelt vorzudringen. Natürlich interessierte sie sich vor allem für die Chats, denn das war eine Herausforderung: Mit wildfremden Leuten zu chatten und dabei so zu tun, als sei der willkürlich im Netz auftauchende Partner so banal und bekannt wie der Nachbar von nebenan!

Marlene chattete wie ein Weltmeister! Sie war der deutschen Sprache überaus mächtig, tolerant, kommunikativ - und entdeckte schnell, dass das Medium ihr eine Plattform bot, auf der sie ihre Fähigkeiten ausbreiten konnte: Reden mit Gott und der Welt und das möglichst stundenlang! Ihre Chat-Partner waren alle sehr angetan, denn Marlene sprach bzw. textete, wie ihr der Schnabel gewachsen war - ohne Scheu, ohne Scham und ohne Angst vor dem "Weißen-Blatt-Syndrom", das viele Schreibende hemmt.

Dabei lernte sie Michael kennen! Er stammte aus München, war intelligent, gebildet, warmherzig, gutmütig und der deutschen Sprache ebenso mächtig wie sie. Sie unterhielten sich - virtuell - immer öfter, verstanden sich auf Anhieb, entdeckten viele Gemeinsamkeiten und tauschten Tausende von Mails aus. Eines Tages beschlossen sie, sich auch im richtigen Leben zu treffen. Als Freunde - denn Michael war verheiratet und kam als Partner nicht in Frage. Marlene hatte das akzeptiert - und reiste trotzdem mit klopfendem Herzen nach München! Sie hatte Angst vor diesem Treffen, wohl wissend, dass ihre Vollweiberscheinung auch schon mal Erschrecken auslösen konnte. Und schließlich war das wirkliche Leben doch etwas anderes als die Kommunikation von Rechner zu Rechner. Marlene besuchte bei der Gelegenheit eine Freundin in München, die sie lange nicht mehr gesehen hatte, und erzählte ihr gleich am ersten Abend in der gemütlichen Bibliothek von ihrer Aufregung und Vorfreude auf den nächsten Tag, den Tag, an dem Michael sie abholen und mit ihr essen gehen wollte. Ein Tag, den sie nie wieder vergessen würde!

Er kam die Treppe herauf - und ihr blieb fast das Herz stehen! Herrgott, sah der Kerl gut aus - und erschrocken hatte er sich auch nicht über ihre Fülle. Er nahm sie spontan in die Arme: "Ich freue mich, ich freu mich, dass du da bist!" Sie fuhren nach Schwabing in eine kleine Pizzeria - und redeten, redeten, redeten. Marlenes Herz klopfte immer noch, aber nun vor Freude. Sie fühlte sich diesem Mann sehr nah und war glücklich, weil sie bei der realen Begegnung den gleichen Draht zueinander hatten wie zuvor. Sie aßen ihre Pizza, tranken ein paar Gläser Rotwein, redeten, lachten und beschlossen dann, noch ein wenig durch Schwabing zu laufen. Marlene nahm die Umgebung kaum wahr - sie hörte nur auf den Mann neben sich, seine warme, tiefe Stimme. In einer kleinen Kneipe fanden sie noch ein Plätzchen, tranken Bier und redeten nicht mehr so viel, weil laut Musik aus den Lautsprechern dröhnte. Marlene blickte in einen Spiegel, sah sich da neben Michael sitzen - und wusste plötzlich, dass sie sich allen guten Vorsätzen zum Trotz verliebt hatte. Sie sahen sich an, immer wieder - dann sagte Michael: "Mein Gott, Marlene, ich muss dich jetzt einfach mal anfassen!" Er nahm sie in den Arm - und sie fühlte den Boden nicht mehr unter den Füßen. Es war wie ein Rausch! Sie spürte, wie sein Herz klopfte, als er sie küsste.....

Später liefen sie durch Schwabing, Hand in Hand wie zwei Kinder! Viele Säulen gibt es in Schwabing, mindestens sieben, an die Marlene sich anlehnte, zitternd, wenn Michael sie küsste. Die Welt versank hinter seinem lieben Gesicht. Sie war verrückt nach ihm, spürte seine Lippen, fühlte seinen Körper, seine kurzen grauen Haare unter ihren Händen.... Bis in den frühen Morgen standen sie schlaflos an der Ringelnatzstraße, wo ihre Freundin wohnte, eng umschlungen, und überhaupt nicht damit einverstanden, sich jetzt wieder zu trennen. Dann ging er, fuhr mit dem ersten Bus nach Hause, schon hart am Einschlafen....

Sie stand oben in der Küche ihrer Freundin, trank gedankenverloren einen Schluck Wasser, träumte von Michael - und weigerte sich, die Ahnung, die sie da schon leise beschlich, ins Bewusstsein dringen zu lassen.

Happy end? Wie man's nimmt! Oh nein, Marlene und Michael haben nie den Kontakt zueinander abgebrochen, sind heute noch befreundet. Sie sehen sich natürlich nie, denn Australien ist weit, aber sie schreiben sich ab und zu!

Marlene hat mir nur einmal von den sieben Säulen von Schwabing erzählt. An der Art, wie sie, die sich sonst über ihre Lover und verrückten Erlebnisse selber belustigte, von der Geschichte sprach, konnte ich erkennen, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass sich der Rausch dieser Nacht niemals wiederholt hat. Sie sagte zwar, das sei vorbei und lange her, aber dann schüttelte sie wehmütig den Kopf und sagte leise: "Es hat endlose Jahre gedauert, bis ich das verkraftet hatte. Vergessen werde ich den Abend in Schwabing nie. Wenn ich daran denke, dann spüre ich noch heute diese Seligkeit - und seine kurzen grauen Haare unter meinen Händen....."

Ja, Marlene hatte auch ernste Momente!