Kühe

Ein wunderbar warmer Tag. Conny hat uns gestern einen Platz im Taxi zur Wetterkreuzhütte (2106 m) "gebucht", auf mein Drängen hin schon früh um Neun. Hannah mault natürlich, als ich sie wecke, aber als ich ihr unmissverständlich klar mache, dass ich das Taxi nicht verpassen will, steht sie doch auf - langsam natürlich. Ich setzte Albert in Erstaunen, als ich früh um 7:45 zum Frühstück erscheine. "Wo setze ich euch bloß hin?", jammert er. In der Tat hat es sich als günstig erwiesen, dass wir in den vergangenen Tagen nicht in aller Herrgottsfrühe aufgestanden sind! So viel Platz gibt es im Frühstücksraum nicht.

Drinnen sitzen schon Pidder und seine Frau Gabi, die unverbesserlichen Frühaufsteher, und mümmeln noch leicht verschlafen an ihren Brötchen herum. Ich setzte mich dazu - es geht doch alles! Ich hole mir mein Brötchen - und bedaure wieder einmal, dass ich morgens noch nicht viel essen kann. Das Büffet ist eine Augenweide, schon allein wegen der vielen von Hand gemachten Holzschüsseln. Darin Müsli in verschiedenen Ausführungen, Cornflakes, Kürbiskerne, Haselnüsse, Pinien- und Sonnenblumenkerne, getrocknetes Obst, Obstsalat, Quark, Milch, Saft....

Trotzdem: ein Brötchen, eine Scheibe Käse, eine Scheibe Schinken, etwas Orangensaft und natürlich viel Kaffee - mehr bekomme ich so früh beim besten Willen nicht in mich hinein. Und das ist schon eine Leistung, zu Hause muss normalerweise eine große Tasse Kaffee reichen! Weil ich von Gabi und Pidder auf meine freundlichen Fragen nur sehr knappe Antworten ernte, mümmele ich auch schweigend an meiner Semmel. Typischer Fall von Morgenmuffeln! Erst als wir uns, jeder mit einer Tasse Kaffee in der Hand, bei einer Zigarette auf der Bank vor dem Haus wiedertreffen, sind alle wach genug, um ein paar Worte zu wechseln. Wir wollen morgen zusammen zur Sajathütte hochsteigen, ein Plan, der mich mit tiefer Spannung und Vorfreude erfüllt - von meinem Respekt vor dem Weg will ich jetzt gar nicht reden.

Viel Zeit bleibt nicht, denn ich muss mein Kind antreiben und rechtzeitig in Virgen sein. Gabi und Pidder drängt es auch zum Aufbruch: Sie wollen zur Clarahütte und anschließend noch ein Stück weiter bis zum Umbalkees.

Pünktlich um Neun stehen wir in Virgen vor der Bäckerei. Es dauert aber noch ein Viertelstündchen, ehe das Taxi kommt. "Es kommt noch ein Zweites!", beruhigt der Fahrer die Wartenden, denen er wohl die Sorge von den Augen ablas - in der Tat passen nicht alle in den kleinen allradgetriebenen Bus hinein. Wir treten zurück und lassen die Hektischen einsteigen - ich kann keinen Grund zu übertriebener Eile erkennen. Wir müssen nicht lange warten, dann sitzen auch wir auf den grauen Sitzen und holpern über den steinigen Fahrweg. Der wird immer steiler. Gott sei Dank bremst der rücksichtsvolle Fahrer vor tiefen Bodenwellen stark ab - sonst hätte es uns bis ans Autodach emporgehoben. Ich bin ganz froh, dass ich hinten sitze. Ich sehe nämlich, dass der Weg immer schmaler wird und die Kehren immer enger. Der Fahrer holt weit aus, damit er um die Kurve kommt - der vordere Teil des Busses schwebt dabei locker über dem Abgrund. Gewöhnungsbedürftig! Natürlich kennt der Mann die Strecke im Schlaf, also steigen wir wohlbehalten an der Wetterkreuzhütte aus. Hannah verlangt nach Cola. Also gut, eine kleine Pause ist noch drin. Neben dem Eingang zur Hütte steht ein Körbchen. "Frische Gamseier" lesen wir auf dem Schild daneben. "Hä?" macht Hannah. Eine Kurzform für "Was soll das denn jetzt!" Sie muss durchaus eine Weile überlegen, ehe sie mich breit angrinst: "Gamseier, Mama, verstehst du? Gamseier!" Ich grinse zurück: "Ach, legen Gämsen keine Eier?" Sie: "Nein!!" - und es klingt ziemlich empört. Netter Gag. Genau so nett findet Hannah die unzähligen Jägermeisterfläschchen, die sich auf winzigen Borden an den Wänden entlang aufreihen. "Die trinken hier aber viel!", meint Hannah. "Was sollen sie auch sonst hier machen, am Abend!", sage ich.

Wir bekommen unsere Cola - und dann muss ich mich draußen ausgiebig umsehen. Unten liegt Obermauern, ein Ortsteil von Virgen, mit der Wallfahrtkirche Maria Schnee, in der gut erhaltene gotische Fresken zu sehen sind, oben fällt der Hohe Eichham (3371 m) mit seinem weißen Eisfeld (Nillkees) auf, daneben sind Säulkopf (3209 m) und Rauhkopf (3070 m) zu erkennen. Das satte Grün des Tals besänftigt die Augen. Einzigartig sollen die Virgener Feldfluren sein, zumindest in den Ostalpen, wegen ihrer Vielfalt an Vogel- und Kleingetier-Arten. Das Geflecht der Hecken und locker übereinander geschichteten Steinmauern durchzieht das ganze Tal wie ein überdimensioniertes Labyrinth, allerdings wird man sich dort kaum verlaufen.

Der wohltuende Panoramablick begleitet uns, als wir uns auf den Weg zur Zupalseehütte (2342 m) machen. Über den Rücken der "Hellen Höhe" zum Fuß des Legerle (2527 m). Hier sehen wir deutlich den Steig, der sich im schönsten Zickzack bis zum Gipfelkreuz hinaufzieht. Ich bleibe unschlüssig stehen. Es würde mich schon reizen, dort hinauf zu klettern. "Kommt nicht in Frage!", sagt Hannah. Leider meint sie es ernst, die ganze Person mit weißem Hut und rotem Hemd ein einziger Widerspruch! Seufzend gebe ich nach, also wandern wir gemächlich und nahezu eben an der Nordflanke um den Berg herum und weiter an der Westseite bis zum Zupalsee. Die Hütte ist schon von weitem zu sehen, liegt noch im Schatten, weil die Sonne noch mit den Spitzen der Lasörlinggruppe kämpft. Als wir am See stehen, hat sich das geändert. Die Kühe, die am Seeufer weiden, spiegeln sich im Wasser. Dem leicht gewellten Spiegelbild setzt die Sonne sanfte Glanzpunkte auf.

Noch ein paar Meter zur Hütte hinauf, dann ist Zeit für ein Radler - und für Frittatensuppe, Hannahs neues Lieblingsessen. Während wir warten, bis die Wirtin unsere Suppe an einem Fenster der Hütte ausruft - die Getränke hat sie uns gebracht -, vertreibt ein leiser Wind die Hitze. Wohlig strecke ich mich in der Sonne aus - sehr zufrieden heute, denn wir haben den Weg von Hütte zu Hütte zum ersten Mal in der angegebenen Zeit geschafft (1:30 Std.). Kein Wunder - er war ja auch fast eben! Für nahezu alle unsere anderen Aufstiege haben wir deutlich länger gebraucht, als auf den hölzernen Wegweisern angeschrieben war. Dann muss ich noch einmal aufstehen und den Ausblick auf die Venedigergruppe bewundern. Das ausgedehnte Maurerkees und die Simony-Spitzen sieht man von hier besonders gut.

Als ich zu unserem Tisch zurückkehre, stelle ich fest, dass die Kühe sich Grashalm für Grashalm bis dicht an die Hüttenterrasse herangeschlichen haben. Eine hat sich auch vorsichtig auf die Natursteinplatten gewagt, zögert dann aber, als wüsste sie, dass sie sich auf verbotenem Terrain bewegt. Die anderen machen auf der Wiese 50 Zentimeter oberhalb der Terrasse halt und glotzen ohne Zweifel neugierig auf die Wanderer, von denen jetzt immer mehr ankommen. Wir waren mit die ersten - das haben wir bisher auch noch nicht geschafft! Ich amüsiere mich sehr entspannt über die glotzenden Kühe, und banne eine kleine Bergrind-Studie auf meinen Farbfilm. Hannah kehrt das Stadtkind heraus und jammert, die Kühe sollten verschwinden, sie hätte Angst! Ich lache sie aus. "Genieß doch mal das schöne Bild!", sage ich. Ganz friedlich stehen die hellbraun und weiß gefleckten Vierbeiner da - und neugierig. Offensichtlich finden sie die rastenden Hüttengeher außerordentlich spannend. Die Kuh hinter mir schnauft tief durch, ich kann ihren Atem am Rücken spüren. Das Vieh neben ihr lärmt unermüdlich mit seiner Almglocke herum, fast stört mich das Geräusch, obwohl es dunkel und blechern die Gehör-Nerven sonst eher wohlig kitzelt.

Auf einmal ist Schluss mit dem Frieden. Die Hüttenwirtin kommt gestikulierend und schimpfend aus dem Haus gelaufen: "Ab mit euch!" Sie klatscht in die Hände, verpasst der Leitkuh einen - sanften - Fußtritt in die Seite, und dann zockelt der ganze Clan missmutig Richtung See ab. Natürlich, die Tiere sollen Gras fressen, damit die Euter voll werden - und nicht Hüttengäste glotzen!

Fast tun sie mir leid, für sie waren die bunt ausstaffierten Menschen bestimmt wie Fernsehen!

Wir widmen uns unserer Suppe, ich studiere noch ein wenig die Karte - und als ich wieder aufschaue, steht die ganze Herde wieder neben uns! Ich muss laut lachen - und auch Hannah kann dem Schauspiel jetzt Komik abgewinnen. Es sieht aber auch zu dämlich aus, wie sie da stehen und stoisch auf uns herunter glotzen.

Wir werden abgelenkt, weil das Geräusch eines Motors aufheult. Damit rechnen wir hier oben eigentlich nicht. Wir beobachten staunend, wie ein Mann, Hüttenwirt Joasch, wie sich später herausstellt, auf seinen zwei Füßen auf die Hütte zumarschiert, seine Hände an einem Lenkrad, das auf einem Karren sitzt. Transporthilfe der besonderen Art! Geladen hat er einen Sack Kartoffeln, einen Sack Möhren und Zwiebeln. Weil er natürlich keine Lust hat, die Vorräte immer zur Hüttenküche hinauf zu schleppen, hat er sich den Karren konstruiert. Der fährt mit seinem kleinen Motor so langsam vor sich hin, dass der Mann bequem hinterher gehen kann. Wirklich praktisch! Auf dem Rückweg sehen wir auch den Parkplatz des seltsamen Gefährts, schön eingezäunt, nicht weit von der Wetterkreuzhütte.

Bevor wir unsere Rucksäcke wieder auf den Buckel hieven, müssen wir allerdings noch eine unglaubliche Szene "überleben". Schon auf den letzten Metern vor der Zupalseehütte hat uns ein junger Mann angesprochen - etwa 16-jährig, sehr kommunikativ, sehr anhänglich. Eigentlich ein ganz netter Kerl - nur dass er sich wiederholt rühmen muss, wie schnell er war und dass seine lahmen Eltern noch immer nicht zu sehen sind, stört mich nach einer Weile ein wenig. Er erzählt und erzählt - auch von anderen Touren - und wir erfahren, dass er aus einem Städtchen ganz in der Nähe von Köln stammt. Die Freude über die geografische Nähe in der Heimat macht ihn noch redseliger - aber er bleibt im Großen und Ganzen erträglich!

Inzwischen sind seine Eltern auch längst eingetroffen, was seine Redseligkeit zumindest von uns ablenkt. Die Stühle und Bänke vor der Hütte sind nun gut besetzt, alle haben Hunger und Durst - und die Wirtin bedient schon lange niemanden mehr, sondern ruft laut aus dem offenen Fenster, wenn wieder ein Gericht fertig geworden ist. Trotzdem: Es dauert doch eine Weile - kein Wunder und durchaus verständlich bei dem Betrieb. Ich stelle fest, dass am Nebentisch offenbar ein Disput ausgebrochen ist. Der redselige Knabe ist relativ still, sein Vater beschwichtigt, aber auch er verhindert nicht, dass die nun schon erheblich echauffierte Stimme der Mutter im gesamten Rund deutlich zu vernehmen ist. Sie wartet schon mehr als 45 Minuten auf ihr Essen und empfindet das nun rigoros als Zumutung. Sehr schrill mokiert sie sich über den "lahmen Betrieb hier" und erklärt dann - nun schon wutschnaubend -, dass "die" (also die, die sich in der Küche abschuften, um dem Ansturm Herr zu werden,) sich die bestellten Bratkartoffeln nun irgendwo hin stecken könnten. Dabei bedient sie sich einer Diktion, die ich guten Gewissens nur als überaus vulgär und primitiv bezeichnen kann. Von niemandem ist diese "Dame" nun mehr zu überhören - und sie hört mit ihrem entsetzlichen Keifen auch nicht auf, als die Wirtin selber mit einem vollen Teller aus der Küche gestürmt kommt, sich tausendfach entschuldigt, als Trost ein Schnäpschen anbietet - und bedauernd erklärt, sie habe gerade heute früh einen "ganz neuen Buam", also eine männliche Küchenhilfe, bekommen, der eben angelernt werden müsse - und das sei so geschwind nicht ohne Verlust zu bewerkstelligen. Aber selbst diese eindeutige und verständliche Situation - obendrein vor dem Hintergrund, dass eine Berghütte nun wirklich nicht mit einem Restaurant verglichen werden kann - stopft der keifenden Madam das böse Mundwerk nicht. Erst als ihr Ehemann ein Machtwort spricht und sie sich eine gehörige Portion Bratkartoffeln in den Mund schiebt, kehrt wieder Frieden ein am Zupalsee.

Hannah, genau so empört wie ich, macht sich schnell mit mir auf den Rückweg. Ich beantworte noch eine Reihe empörter und verständnisloser Fragen, dann ist das Kind mit mir der Meinung, dass es Leute gibt, die in diesen Bergregionen offensichtlich fehl am Platz sind und im Ambiente einer "Ballermann"-Rundumversorgung sicherlich nicht derart unangenehm auffallen würden. Es blieb glücklicherweise das einzige Erlebnis dieser unerträglichen Art.

Kühe am See

Kühe am Zupalsee

Wir trödeln herum - nicht, weil wir müde sind, sondern weil wir Steine suchen müssen! Vorher haben wir hin und wieder mal ein Steinchen, das uns gefiel, eingesteckt, so war eine kleine bescheidene Sammlung entstanden. Die hatte Hannah eines Abends im Gästehaus vom Gamsbart begutachten lassen. Der Mann besitzt eine Halbedelsteinsammlung, die den größten Teil seines Wohnzimmers einnimmt, und kennt sich aus. Durch puren Zufall haben wir das ein oder andere Steinchen aufgelesen, in dem wirklich ein Quäntchen aufhebenswertes Material steckt - außerdem hat er Hannah zum Andenken einen mit einem dicken Granat besetzten Stein geschenkt. Der ist wirklich wunderschön und war ein sehr nettes und irgendwie auch rührendes Präsent fürs Kind. Das hat nun sozusagen Blut geleckt und ist von keinem Geröll mehr weg zu bekommen. Immer wieder bleiben wir stehen, was unterm Strich nur Zeit kostet, denn abends wirft der Gamsbart die meisten Brocken in die Isel, weil absolut kein edles Gestein dran und drin zu finden ist.

Endlich kommen wir den Hang zur Wetterkreuzhütte hinunter, vor der das Taxi schon steht. Wir verstauen unsere Ausrüstung und fahren auch schon los. Diesmal sitzen Hannah und ich ganz vorne. Unser Vertrauen zu dem umsichtigen Fahrer wächst jedoch im Nu, also machen wir uns auch keine Gedanken, wenn die Räder am äußersten Rand des Weges entlang rollen.

Abends müssen wir den alten Benz des Landwirts aus Schleswig-Holstein bewundern! Er ist auch ein Steinfreak - und hat seinen Wagen mit dicken Brocken aus dem Serpentin-Steinbruch vollgeladen. Wir wollen es fast nicht glauben. Wie hat er die Brummer denn nur hier heruntergeschafft? Alles selbst an den Wegrand geschleppt und dann ein Hüttentaxi angehalten, erzählt er strahlend! Ja, denke ich, wenn deine Augen dann auch so geleuchtet haben, wird der Fahrer das Gestein sogar mit einer gewissen Begeisterung in seinen Bus geladen haben! Später weht ihn leise Schwermut an, weil er am nächsten Morgen wieder den langen Weg in Deutschlands Norden bewältigen muss, zurück ins Flachland und zu seinen - auch dort glücklichen - Kühen, von denen einige in Kürze kalben. Keine Chance, der Urlaub ist zu Ende!

Auch ich denke daran, dass in drei Tagen schon die Heimfahrt bevorsteht. Schnell wische ich den Gedanken beiseite - gehe lieber früh ins Bett, denn morgen wollen Pidder, Gabi, Hannah und ich auf die Sajathütte - mein Traumziel! Warum das so ist, kann ich gar nicht sagen, mir haben Bilder von dort oben gefallen, die ich zuvor schon gesehen habe. Außerdem ist es auch ein ehrgeiziges Ziel, denn die Hütte liegt 2600 Meter hoch. Dorthin fährt kein Hüttentaxi, wir müssen schon unsere eigenen Füße bemühen!

Zum 18. Tag

Tag17: 27.Juli

Traumpanorama

Blick von der "Hellen Höhe" auf Obermauern und die Venedigergruppe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hüttenstempel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zupalseehütte

Zupalseehütte (2342 m)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lieblingsbeschäftigung: Glotzen

Neugierige Kühe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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