Kaisertour

Die "Österreicher", wie Albert die drei befreundeten Pärchen der Einfachheit halber nennt, haben uns eingeladen, mit auf die Bergerseehütte zu gehen. Ich warne sie, wir sind langsam, doch sie lassen sich nicht schrecken. Also gehen wir mit! Pünktlich um neun Uhr stehen wir gestiefelt mit Stock und Hut vor dem Haus. Wir fahren alle zusammen in einem Kleinbus nach Prägraten und stellen den Wagen am Wald oberhalb des Freizeitzentrums ab. Ein Stück gehen wir den Fahrweg hoch und dann steigen wir nach links in den Wald hinein. Gisi macht das Schlusslicht. Ich lerne von ihr, ganz, ganz langsam zu gehen. Zuvor war ich immer viel zu schnell und noch schneller außer Puste!

Der Weg ist ein Traum! Der hohe Lärchenwald schützt vor der Sonne, am Rand des schmalen Steigs stehen Teufelskralle, Eisenhut in Gelb und Blau, Akelei, Almrausch, Himmelsschlüssel - alles in voller, bunter Blüte. Der Pfad gibt in den Kehren immer wieder den Blick frei auf grüne Hänge, an denen Kühe grasen, oft müssen wir einen rasch zu Tal plätschernden Bach überqueren. Es geht steil bergauf, doch zwischendurch gibt es immer wieder ebene Passagen - Erholung für den trotz aller Langsamkeit leicht hechelnden Atem. Bis zu den Almen komme ich ganz gut voran - ein leichter Trainingseffekt scheint sich nun doch bemerkbar zu machen. An einem Gatter treffen wir die anderen, die schneller sind. Florian hat im Flüsschen einen intensiv grünen Stein gefunden, in dem Bergkristall steckt! Er und Sepp versuchen den Stein zu zerschmettern, doch das gelingt nicht. Der Stein ist viel zu groß. Florian, dem Steinsammler, blutet das Herz, aber er gibt die Hoffnung nicht auf. Vater und Sohn wuchten das dicke Ding an die Seite des Baches. Florian will in zwei Tagen wiederkommen und Hammer samt Meißel mitbringen. (Das hat er tatsächlich getan - und nun selbst gefundenes Bergkristall in seiner Vitrine zu Hause.)

Wir gehen weiter über die Almen und der Pfad wird immer steiler. Der geduldige Sepp kann die tausend Fragen von Hannah nun auch nur noch vorsichtig dosiert beantworten. Gisi, die Langsamgeherin, ist schon ein endloses Stück voraus - und ich falle zurück. Bleibe immer wieder stehen, um das herrliche Bergpanorama zu bewundern - und um nach Luft zu schnappen!

Sepp und Hannah sind nun auch weit voraus, ich kann sie hin und wieder sehen. Ich stoppe, um andere Wanderer vorbei zu lassen, die schneller als ich gehen wollen. Halblahm setze ich Fuß vor Fuß, bemüht, ganz langsam, aber gleichmäßig zu gehen. Ich hechele jetzt wie nach einem Marathonlauf. Was ist das nur für eine Schinderei, denke ich, mein Mut ist längst gesunken. Wir wollen, wenn die Hütte erreicht ist, ja noch weiter - ob ich das überhaupt noch schaffe? Ich schaue nach oben, sehe Hannahs weißen Hut in einer Senke verschwinden - und erblicke für Sekunden das flatternde Zipfelchen einer Fahne! Solche rot-weißen Fahnen stehen immer da, wo Hütten sind! Sofort kommt ein Schub Energie zurück. "Ich hab's geschafft", denke ich, "ich habe es wirklich geschafft!" Kurz vor der Senke steht ein feines Holzschild: "Nur noch 99 Schritte". Ich mache zwei - und höre auf zu zählen. Ich sehe den Bergersee, die Hütte (2181 m), die in der Sonne blinkenden Schneereste auf den Felsen ringsum... Ich muss zwei Minuten, auf meine Stöcke gestützt, stehen bleiben, mich in den Anblick vertiefen.

"1. Virgentaler Hundebar" lese ich, als ich an die Bergerseehütte heran komme. Eine Art niedriger Tresen mit Näpfen und Schalen. Nur einen Hund sehe ich nicht, auch nicht, als ich mich hinter der Hütte auf die Holzbank sinken lasse. Die anderen haben ihr Käsebrot schon halb aufgegessen und grinsen, als sie mich sehen. Ich sage nichts, ich atme! Sepp raucht schon! Das könnte ich nicht - noch nicht. Ein Radler bestelle ich bei dem Sherpa, der uns bedient. Sherpa? Wir sind doch nicht im Himalaja! Bis vor kurzen gab es auf dem See noch Tretboote - auch leicht unpassend für diese Gegend. Die gibt es jetzt nicht mehr - aber dafür die Hundebar!

Ich gehe in die Hütte, wechsele mein durchgeschwitztes Hemd, hole mir den Hüttenstempel und trage Hannah und mich ins Hüttenbuch ein. Jetzt bin ich wieder sehr stolz auf mich!

Hannah löffelt eine Nudelsuppe in sich hinein - ich bin nicht hungrig! Ich nippe noch zufrieden an meinem Radler, als die anderen zum Aufbruch drängen. Schade. Aber schließlich haben wir noch ein gutes Stück Weg vor uns. Nach wenigen Schritten sind wir auf dem Muhs-Panoramaweg. Der Weg ist schmal, rechts geht es steil hinunter. Ich schaue auf den Boden vor mir und wage hin und wieder einen ganz kurzen Blick in den Abgrund. Es ist nicht schlimm. Erstaunlich! Ich bleibe stehen und schaue hinunter - kein Problem. Ach, wie viele Sorgen habe ich mir vorher um solche Art von Wegen gemacht! Und was heißt denn schon Abgrund! Der mit Gras und Moos bewachsene felsige Hang senkt sich zwar kräftig, die Wasser toben ziemlich flink zu Tal - wenn man nicht aufpasst oder daneben tritt, würde man beim Hinunterrollen gut an Tempo gewinnen! "Aber warum sollte ich denn stolpern", denke ich ruhig - und an den Pfad zur Clara-Hütte. Der war viel schmaler - allerdings ging es auch nicht so weit hinunter, nur sechs oder sieben Meter bis zur Isel. Und dort sind wir sogar in den Grashang geklettert, um durchsumpfte Kuhspuren oder einen Teilabrutsch zu umgehen. Klappte alles prima - also geht es hier auch. Nur vor den geländerlosen Stegen über zum Teil heftig fallende Wasser muss ich immer noch kurz innehalten. Kleiner Moment der Konzentration, schnell im Kopf noch ein Mal abhaken, dass es völlig unwahrscheinlich ist, ausgerechnet auf den Holzbrettern die Balance zu verlieren. Danach hole ich tief Luft und gehe los, den Blick fest auf den Steg gerichtet.

Natürlich hechele ich wieder leicht, denn wir müssen ja noch ca. 200 Höhenmeter bis auf etwa 2400 m, unseren höchsten Punkt heute, überwinden. Ich denke an Gisi - und setze wieder ganz bedächtig einen Fuß vor den anderen. Es geht, ganz gut sogar.

Plötzlich sehe ich vor mir einen weißen Fleck auftauchen, der gleich wieder weg ist. Ich lege doch einen Schritt zu, biege leicht keuchend um die Kurve ... Unfassbar!!!

Rötspitze/Muhs-Panoramaweg

Die ganze Venedigergruppe breitet sich behäbig und sehr erhaben vor uns aus. Ich bin überwältigt und sprachlos. So einen Ausblick hatte ich nicht erwartet! Mir wird bewusst, dass mir dieser Anblick nicht vergönnt wäre, wenn mich nicht meine eigenen Füße hierher getragen hätten. Wieder bin ich sehr stolz auf mich und spüre erneut, wie die Glückshormone herumstäuben. Was ich hier sehe, habe ich mir verdient! Ich ganz allein!

Der Schnee, der in der vergangenen Nacht bis auf 2000 Meter herunter gefallen ist, hebt sich sanft glitzernd gegen den völlig wolkenlosen, tiefblauen Himmel ab. Die Berge wirken zum Greifen nah! Jeder Felsvorsprung, jedes Kar baut schattenreich herbe Kontraste gegen Schnee, Grün und Himmel. Wohin ich schaue - Gipfel! "Ich zeig dir die 3000-er!" steht im Prospekt der "Kreativen Hinterbichler". Jetzt weiß ich, was sie gemeint haben.

Die Rötspitze (3496 m), Teile des Umbalgletschers, die Simony-Spitzen (3481 m), dazwischen klein und ganz dick weiß die Dreiherrenspitze (3499 m), das Maurerkees (3100 m), der Große Happ (3952 m), vorne das Türmljoch (2772 m), der Schlafende Mönch, den Hannah so gerne wecken würde, der Großvenediger (3674 m), mein Traumberg, samt Defreggerhaus (2963 m), der Eichham (3371 m).... und weiter endlos die Spitzen bis hinten zum Großglockner (3798 m)! Den sehen wir einen Moment lang auch ganz frei, ehe sich von hinten eine Wolke vor den Gipfel schiebt - die einzige. Kaiserwetter! Vor dem Großvenediger, leicht mit Weiß bestäubt die Sajatscharte, die Kreuzspitze (3155 m), die Sajatköpfe (2915 m)und die Sajathütte (2600 m). Deutlich ist der Katinweg zu erkennen, der im Zickzack über die Sajatmähder hinauf führt. Da will ich noch hin.

Auch die Essen-Rostocker-Hütte (2207 m) sehen wir, die Bonn-Matreier-Hütte (2745 m) und den Fahrweg zur Johannishütte. Die Nilljochhütte und die Bodenalm entdecken wir auch und den Fahrweg zur Gottschaunalm. Der Gletscher am Großvenediger leuchtet verlockend in der Sonne, die hier oben gar nicht drückend sticht. Wieder fotografiere ich ihn - zum 20. Mal etwa. Wieder nehme ich das Fernglas, um nach Seilschaften zu schauen. Bald auch ich da oben?

Nur mühsam reiße ich mich von dem gigantischen Ausblick los. Der Pfad senkt sich sanft in langen, ausgedehnten Kehren zu Tal - früh sehen wir die Lasnitzenhütte (1895 m), wo wir Marillenkuchen essen wollen. Zuvor müssen wir noch eine Menge Wasser, Geröll, Schafsköttel und auch im Weg stehende Kühe überwinden. Zum Schluss - ich habe gerade, ohne lang zu überlegen, ein nicht ganz flaches Wasser "genommen", das einfach über den Weg hinweg sein Bett sucht - ein Altschneefeld! Das erste, das ich überqueren muss. Ich sehe, wie Hannah hinter Sepp die letzten Schritte auf dem Schnee macht. Mir bleibt fast das Herz stehen! Altschnee kann gefährlich sein, das habe ich gelernt. Ich setze prüfend einen Stiefel hinein. Man sinkt nicht tief ein. Ich schaue nach unten den Lasnitzenbach entlang, der in sanften Mäandern zu Tal fließt: nicht allzu steil, überlebbar, auch wenn der Schnee rutschen sollte. Vorsichtig setze ich einen Fuß nach dem anderen in die schon getretenen Spuren - geht nicht immer, weil hier offenbar überwiegend Männer mit Riesenschritten am Werk waren. Als ich wieder auf Stein und Gras stehe, atme ich auf. Sofort durchströmt mich diese spürbar heiße Freude: Wieder eine Erfahrung mehr!

Der Marillenkuchen auf der Lasnitzenhütte schmeckt tatsächlich lecker. Sepp teilt sich das letzte Stück mit mir, danach probieren wir - wieder brüder/schwesterlich - den Apfelstrudel. Die Sonne steht jetzt schon ganz schön tief - Zeit für die letzte Etappe. Wir gehen den Fahrweg von der Alm hinunter bis zum Auto oberhalb des Prägratener Freizeitzentrums. Ich spüre keine Zehen mehr, meine Oberschenkel jaulen, die Knie schmerzen, die Sohlen brennen. Dieser lange Abstieg war ein Tick zuviel!

Abends bin ich lahm, aber nach einer Dusche geht es wieder! Wir essen mit den "Österreichern" beim Islitzer - alle Berggeher an einem Tisch. Sepp und Gisi feiern Hochzeitstag, also gibt es ein Schnapserl. Dann noch zwei von Albert - und danach wie tot ins Bett! Ein traumhafter Tag! Das schönste Bergerlebnis des ganzen Urlaubs!

Zum 15. Tag

Tag14: 24.Juli

 

Bergerseehütte (2181 m)

 

 

 

 

 

 

Simonyspitzen und  Maurerkees

 

 

 

Muhsweg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3000-er - wohin man auch schaut!

 

Blick aus dem Lasnitzental auf den Großvenediger

 

 

Vor der Lasnitzenhütte