Lebensretter

Hannah will nicht aufstehen und erst recht nicht auf die Berge. Ich bin sauer! Trotzdem verspreche ich ihr noch einen Ruhetag. Wir beschließen, über den Wiesenweg zum Johannes zu gehen und dort den Tag zu verbringen. Wir marschieren los - am Campingplatz vorbei in den Wald, ein Stück den Forstweg entlang und ins Iseltal. An der Bank links hoch, hat ein Gast uns gesagt - inzwischen weiß ich, was er meinte!

Ich sehe die Bank, gucke links hoch und finde, dass es ziemlich steil hochgeht. Ich zögere noch einen Moment, entscheide mich aber doch, dort hinauf zu gehen. Der Weg ist entsetzlich steil. Wir steigen und steigen. Schnaufen. Hannah beschwert sich immer wieder: "Und das soll ein Ruhetag sein?" Ich dränge sie weiter. Nach einer ganzen Weile erreichen wir einen Wegweiser: Stockachalm (1720m) und Kohlröserlwiese!!!

Ich sitze wackelig auf dem steilen Pfad und bin entsetzt! Vor der Kohlröserlwiese hat fast jeder mich gewarnt. Der direkte Umweg zum Johannes! Ich schnaufe und überlege: Hier wieder hinunter? Ich schaue zurück. Nein, niemals! Wir müssen da durch und einfach weiter!

Das schlimmste ist: Wir haben nichts zu trinken mitgenommen, weil wir ja dachten, wir gingen nur ein Stündchen lang zur Islitzer Alm! Ich bin jetzt etwas besorgt und mache mir Vorwürfe! Hannah jammert, sie würde gleich verdursten und beschimpft mich wüst. Immerhin hatte ich ihr einen Ruhetag versprochen... Glücklicherweise habe ich wenigstens Traubenzucker und Müsliriegel dabei.

Nach einer Ewigkeit erreichen wir die Stockachalm. Sie ist nicht bewirtschaftet. Wir stromern um die Hütte. Hannah sieht es als erste: eine Plastikflasche mit Wasser darin, vor der versperrten Hüttentür! Ich probiere vorsichtig einen winzigen Schluck von der Flüssigkeit. Ekelhaft! Faulig und bitter! Mist.

Hannah lässt sich auf die grob gezimmerte Holzbank sinken. Sie ist fertig, verzweifelt, durstig - und still. Ich lausche. Ich meine, irgendwo Wasser plätschern gehört zu haben. "Das ist der Bach", sagt Hannah. "Nee", sage ich, "der Bach tost, das hier plätschert!" Wo eine Alm ist, muss doch auch Wasser sein, verflixt! Ich raffe mich auf, konzentriere mich und gehe in die Richtung, aus der ich so etwas Ähnliches wie Plätschern erahnt habe.

Eine Quelle!! "Ich hab's, hier...", brülle ich laut zu Hannah hinüber. "Komm her und bring die Flasche mit!" Sie kommt schleppend und ungläubig heran. Ich reiße ihr die Flasche aus der Hand, spüle sie gründlich aus und fülle sie mit dem klaren, kühlen Nass! Erst trinkt Hannah, als müsste sie einen Wettbewerb gewinnen, dann ich. Himmlisch. Noch nie hat mir Wasser so gut geschmeckt!

Auf einmal finden wir alles ganz toll! Die Almhütte ist urig. Hier könnte man auch mal eine Woche verbringen - so gänzlich abgeschieden von allem, denke ich. Wir schauen in den Stall, der voller Heu ist. "Guck, Hannah, wenn wir nicht weiterkönnen, finden wir hier einen Schlafplatz!" - "Und wenn ein Gewitter kommt?", fragt das Kind. Ich schaue in den Himmel. "Sieht nicht nach Gewitter aus!" Sie ist nicht ganz überzeugt. Wir gehen um das Holzhäuschen herum in den Schuppen. Dort holen wir uns ein Bänkchen an den Tisch vor der Hütte, den man herunterklappen kann. Jetzt ist es gemütlich wie zu Hause auf der Terrasse. Wir ruhen uns aus, trinken Wasser, essen Müsliriegel und fühlen uns wie zwei Abenteurer! Endlich macht diese blöde Tour richtig Spaß!

Nach etwa 45 Minuten versetzen wir alles wieder in den Urzustand, nehmen aber die gefüllte Flasche mit! Ich habe zwar ein wenig Bedenken wegen eventuell nachfolgender Berggeher in ähnlicher Situation - aber vor der Hütte steht auch noch ein gläserner Bierkrug mit vertrockneten Blumen darin. Ich schmeiße die Blumen ins Gehölz, spüle den Krug an der Quelle aus und stelle ihn sichtbar auf die winzige Holzterrasse. Damit kann jeder, der kommt, Wasser holen. Schließlich beruhige ich mich auch noch mit dem Gedanken, dass hoffentlich niemand außer uns so blöd ist, ohne Getränkevorrat loszugehen!!

Wir machen uns auf den Weg. Es geht noch ein wenig bergauf, dann stapfen wir über die Kohlröserlwiese und schauen uns in Mengen die Pflanze an, die dem Hang den Namen gibt. Oben auf der Bank in Ameisen-City haben wir einen grandiosen Ausblick auf den Großvenediger, meinen Lieblingsberg. Ich fotografiere ihn zum etwa 10. Mal. Ameisen-City haben wir die Stelle getauft, weil hier Millionen Ameisen siedeln. Wir müssen auch die Füße auf die Bank stellen, weil die winzigen Tiere sonst unsere Beine hochkrabbeln. Nein, richtig gemütlich ist es in Ameisen-City nicht, also brechen wir schnell wieder auf. Nach einer Weile geht es in den Wald und dort steil hinunter. Hannah muss sich auf den Hosenboden setzen, weil ich ihr verboten habe zu springen, wenn hohe Steine im Weg liegen. Auch ich muss mich festhalten - unsere Stöcke liegen natürlich friedlich im Gästehaus. "Ruhetag", denke ich spöttisch - und selben Moment sagt Hannah ironisch: "Na, das ist mir ja ein feiner Ruhetag!" - "Tut mir leid, Süße, war mein Fehler, ich hätte es besser wissen müssen!" Sie nickt: "Ist schon okay!"

Der Pfad schlängelt sich durch den Wald und wird immer steiler. Unsere Knie jaulen und die Muskeln auch. Das anstrengende Absteigen nimmt kein Ende. Wir sehen die Islitzer Alm von oben, nähern uns aber doch nur zaghaft unserem Ziel. Endlich erreichen wir die Wiese oberhalb der Pebell-Alm. Wir können kaum noch laufen. Am Drehkreuz versperrt uns eine Kuh den Weg. Wie soll ich die bloß verscheuchen ohne Stock? Na ja, mit Stock hätte ich mich auch nicht getraut! Wir drücken uns hinter dem mächtigen Kuhhintern vorbei - innerlich betend, dass sie uns das nicht übel nimmt. Hannah fasst nach meiner Hand. Die Kuh bleibt friedlich.

Beim Johannes sinken wir auf eine der Bänke, restlos fertig! "Wo seid's denn jetzt ihr wieder gewesen?", fragt der Johannes kopfschüttelnd. Ich sage nur ein Wort: "Kohlröserlwiese!" Er reißt die Augen auf: "Ah, herrje! I bring dir a Weißbier!" Ich nicke - halbwegs begeistert. Mein Kind springt auf. "Ich gehe auf die Schaukel", ruft sie und ist schon davongesprungen wie eine Gämse, die gerade aufgewacht ist. Oberhalb der Wiese hat sie noch gejammert und geflucht! Ich glaube es nicht. Meine Zehen kann ich kaum noch spüren, die Stiefel drücken, die Knie schmerzen - ich wusste gar nicht, dass der Mensch auch unter den Füßen Muskeln hat! Alles tut weh! Ich schwöre mir, keinen Schritt mehr zu gehen! Fünf Minuten später muss ich aufs Klo. Mist!

Johannes bringt das Bier und kündigt an, dass unser Wirt Albert gleich ankommt, der hat hier zufällig zu tun. "Der nimmt euch mit runter!" (Mit dem Auto!) Ich muss so dankbar geguckt haben, dass der Johannes mir gleich ein Schapserl verspricht. Das macht mich schön warm. Unser Wirt kommt tatsächlich - kurz, nachdem wir schnell etwas gegessen haben. Tiroler Gröschtl, eine meiner Lieblingsspeisen!

"Dich schickt der Himmel", stöhne ich, als er an den Tisch kommt. "Wo wart ihr denn?" Ich sage wieder nur das eine Wort. "A geh..., ihr seid's aber auch..." Genau, dämlich, denke ich. Und frage mich zum 1000. Mal, wieso ich an der Kreuzung mit der Bank nicht gecheckt habe, welches der direkte Weg zum Johannes ist. Egal. Die Kohlröserlwiese haben wir jetzt gemacht, nun müssen wir den Weg nie wieder gehen!!!

Als wir am Gästehaus ankommen, steht Conny schon in der Tür. "Ich hab schon gehört", sagt sie grinsend. "Kohlröserlwiese!" Ich winke nur noch ab. Meine schmerzenden Füße bringen mich fast um. Ich frage sie nach einer Schüssel. Eine meiner Freundinnen hat mir vor Urlaubsantritt in weiser Voraussicht Essenzen für ein entspannendes Fußbad geschenkt, nur das hab ich jetzt noch im Kopf. "Oh, ich hab da was ganz Feines", sagt Conny. Sie verschwindet nach oben und kommt sofort zurück - mit so einem Fußmassage-Gerät! Sie grinst wieder - diesmal über mein strahlendes Gesicht! Als ich ihr das Gerät am nächsten Morgen zurückgebe und mich bedanke, fragt ein Gast nach, was das für ein Ding sei. "Ein Lebensretter!" sagt Conny und lacht. Recht hat sie!

Minuten später sitze ich oben auf dem winzigen Balkon, die Füße in dem weißen Becken voll duftenden, sprudelnden Wassers. Ist das eine Wohltat! Die Isel tost laut, die letzten Sonnenstrahlen huschen über die Geranien, die das Balkongeländer schmücken. Ich stecke mir eine Zigarette an, trinke einen Marillenschnaps - und bin glücklich! Völlig verrückt! Da habe ich mich nun den ganzen Tag ganz unerwartet geschunden, meinen untrainierten Muskeln harte Prüfungen zugemutet, mich völlig ungewohnten Anstrengungen unterworfen... Trotzdem bin ich stolz auf mich, immerhin habe ich ja alles geschafft, und so zufrieden wie schon ewig nicht mehr! Urlaub in den Bergen hat eben eine ganz eigene Magie! Ich habe das nur vorher nicht gewusst! Ausgerechnet nach der Kohlröserlwiesen-Tour bin ich ganz sicher: Diese Erlebnisse will ich wieder und öfter haben! Die Berge haben mich endgültig gefangen genommen!!

Zum 11.Tag

Tag10: 20.Juli

 

Wolken im Virgental

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Peter Faisst

Blick von der Sajathütte auf die Kohlröserlwiese

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gästehaus Conny