Gipfelsieg
Angst, Frust und endlich Sieg: Mein schwieriges Verhältnis zur Blauspitze
Tütenweise Glückshormone beim 3. Anlauf
"Du saublöder Berg, du!" Wütend stehe ich neben dem Blauspitz-Restaurant oberhalb von Kals. Nur mühsam schützt mich das Vordach eines nur
während der Skisaison aktivierten Getränkestandes vor dem gleichmäßig perlenden Regen. Ich hab noch keine Lust, in das SB-Restaurant hineinzugehen, weil ich erst meine Wut
loswerden muss. Dieser blöde Berg will mich doch nicht hochlassen!
Langsam streife ich die Handschuhe von den Händen, öffne den Anorak, um
dem Temperaturausgleich ein wenig nachzuhelfen. Gibt's das? Mein 2. Versuch, die
Blauspitze zu besteigen und schon wieder muss ich aufgeben! Ich bin richtig sauer
und grummele in mich hinein. Am Morgen hatte es noch vergleichsweise gut ausgesehen am
Himmel über Kals. Sicherheitshalber hatte ich an der Talstation nachgefragt, wie es oben
aussieht, ehe ich das Ticket kaufte. "10 Grad, kein Regen!" hieß die Antwort
des eigens antelefonierten Lifthelfers an der Bergstation.
Also fuhr ich mutig hinauf, einen leicht angefeuchteten "Sessel"
unter dem Hintern. Tatsächlich, es regnete nicht, als ich neben dem Blauspitz-Restaurant
ausstieg, und mich, zuerst den Hang wieder hinunter, auf den Direktweg zur Blauspitze
machte. Fast fröhlich sprang ich über die wirklich ziemlich blauen Steinfelder am
Ostfuß des Berges, innerlich schon siegessicher. Gäste im Gästehaus Conny in
Hinterbichl hatten die Tour am Vortag gemacht und sie mir genau beschrieben. Ich war
überzeugt, dass es kein Problem werden würde, das Gipfelkreuz zu erreichen. Am Osthang
zweigt der Weg zur Sudetendeutschen Hütte ab, er ist zunächst mäßig steil und
ausgezeichnet zu gehen. Mit für meine Verhältnisse gutem Tempo komme ich voran. Doch
leider - schon nach wenigen Metern beginnt es zu regnen. Leicht säuerlich schaue ich mir
den Himmel an: Hm, nicht eindeutig!
Da ist von Norden eine dicke Wolke herangesegelt, die momentan die
Blauspitze verhüllt und es sanft tröpfeln lässt. Könnte ein Schauer sein! Ich grabbele
nach der Anorakkapuze und ziehe sie mir über den Kopf, immer noch wild entschlossen, mein
Vorhaben nicht aufzugeben. Es wird immer dunkler, immer grauer und der Regen hat
nun einen Einnässfaktor, der allmählich unangenehm wird. Unverdrossen steige ich weiter.
Ich bin offensichtlich die einzige, die bei diesem Wetter...
Immer wieder bleibe ich stehen und versuche, aus der Wolkensituation am
Himmel schlaue Rückschlüsse zu ziehen. Es sieht immer eindeutiger nach Dauerregen aus,
aber irgendwie weigere ich mich, die Realität in meinen Kopf zu lassen. Ich will zu
diesem blöden Gipfelkreuz!!!
Ich steige noch etliche Höhenmeter weiter, bin schon ziemlich nass
und allmählich kann ich mein Herz überreden, die Signale aus dem Hirn endlich für voll
zu nehmen. "Gib auf, Imke, das wird heute nix mehr!" Ich will aber nicht!
Trotzig gehe ich noch ein paar Schritte, stoppe wieder und dann sehe ich, dass von
unten ein Trio herankommt. Drei Jäger, erkenne ich, als sie noch einen Steinwurf entfernt
sind. Ich warte, bis sie neben mir ankommen und frage: "Sagen Sie mal, Sie müssten
es doch wissen: Hört das wieder auf oder regnet es sich ein?" Sie grinsen
freundlich, und einer schüttelt den Kopf: "Ich fürchte, das regnet sich ein!"
Ich bedanke mich artig.
Dann drehe ich mich abrupt um und gehe den Weg wieder zurück. Während
ich weit ausschreite, um möglichst schnell das Bergrestaurant zu erreichen, tobt in mir
Unmut. Ich will einfach nicht akzeptieren, dass nunmehr mein 2. Versuch, die Blauspitze zu
"erobern", gescheitert ist.
Und dann stehe ich an dem Getränkestand, immer noch im Regen, und wüte
vor mich hin. "Du verdammter Berg! Wenn du glaubst, dass ich jetzt aufgebe, hast du
dich geirrt! Ich krieg dich noch!" Noch zwei Tage Urlaub bleiben mir. Ich schmeiße
alle Pläne über den Haufen. Der Wetterbericht am Vorabend hat für den nächsten Tag
noch Bewölkung angesagt, danach aber stetige Besserung. Also beschließe ich, am letzten
Urlaubstag noch einmal zu versuchen, das Gipfelkreuz der Blauspitze zu erreichen.
Ich kehre nun doch im Bergrestaurant Blauspitze ein. Dummerweise hat der
Sessellift Mittagspause - eine dieser typischen Unwägbarkeiten des österreichischen
Dienstleistungsverständnisses. Ich gönne mir eine Suppe und einen heißen Tee und
sinniere vor mich hin. Vor zwei Jahren, 2000, habe ich schon einmal versucht, die
Blauspitze zu besteigen, mit meinen Freunden Paul und Peter. Damals sind wir aufs Goldried
hochgefahren und zur Kalser Höhe aufgestiegen. Von dort geht es über einen winzigen Grat
zur Stufenanlage am Weißen Knopf. Und ich weiß nicht, wie es kam: Ich war nicht in der
Lage, über diesen Grat zu gehen! Angst und Beklemmung schnürten mir die Kehle zu. Immer
unsicherer wurde ich. Und schließlich rief ich den Freunden zu, sie sollten machen, was
sie wollen, ich jedenfalls würde umkehren. Auf allen Vieren (weia!) hangelte ich mich
zurück zur Kalser Höhe. Dort endlich fühlte ich mich wieder halbwegs sicher.
Trotzdem: der Vorfall nagte an mir. War ich etwa einer von diesen
"Schwächlingen" (na ja!), die vor Graten schlapp machen? Hatte ich womöglich
doch Höhenangst?
Ich hab mittlerweile andere Grate überquert, ohne Probleme übrigens, und
mich halbwegs zufrieden gegeben mit einer Antwort von Peter: "Nun ja, der Albert (der
Wirt vom Gästehaus Conny) würde sagen: Das ist halt Kals!" Einfache Antworten sind
immer gut für verstörte Seelen!
Ein Gutes hatte die 2. gescheiterte Blauspitzenbesteigung dann doch noch:
Als der Sessellift endlich wieder rotierte, fuhr ich hinab. Im mittlerweile strömenden
Regen. Eingehüllt in dichten Nebel. Das hatte was: Ich saß auf dem nassen Sessel,
versuchte, mit dem Regenponcho auch den Rucksack zu bedecken. Die Welt hatte sich
verabschiedet. Mutter- und vaterseelenallein reiste ich talwärts. Nix außer grauer Watte
war zu sehen. Die Umsteige-Station tauchte erst in letzter Minute auf, und ich musste mich
schnell sortieren, um rechtzeitig abzuspringen. Im Nachhinein ist mir diese Nebeltour als
echtes Erlebnis in Erinnerung!
Irgendwie rückt die Welt ja immer alles wieder zurecht! Natürlich ist
den Gästen im Gästehaus Conny nicht verborgen geblieben, was für einen Frust ich mit
dieser blöden Blauspitze hatte. Und schon gar nicht, dass ich heiß entschlossen war, den
Aufstieg erneut zu versuchen. "Wir kommen mit!" verkündete am Vorabend meines
letzten Urlaubstages Bernd, ein Gast aus der Nähe von Mönchengladbach. "Wir"
das hieß, er und seine Tochter Lisa. Oh weh, war ich erschrocken! "Also,
äh..." stotterte ich und bemühte mich dann, wortreich zu erklären, dass ich
extrem langsam bin, wenn Wege steil ansteigen, dass ich im Übrigen auch gar nicht
wüsste, ob ich den Grat vom Blauspitz-Gipfel zum Weißen Knopf würde gehen können wg.
möglicher Gratangst usw...
Ich hatte keine Chance!
"Kein Problem!" war Bernds Standard-Antwort! Er wollte mit, weil
er den Weg nicht kannte, aber interessiert war und selber auf die Blauspitze wollte
wie's immer so geht. Die Sache hatte einen Vorteil: Wir konnten mit zwei Autos fahren.
Also parkten wir einen Wagen an der Goldried-Bahn und fuhren mit dem zweiten nach Kals.
Unser geplanter Weg: Von Kals-Großdorf mit dem Sessellift zum Blauspitz-Restaurant, von
dort zur Blauspitze, über den Grat zum Weißen Knopf, von dort zur Kalser Höhe, Abstieg
zum Kals-Matreier-Törlhaus, rüber zum Goldried und dann mit der Kabinengondel hinab nach
Matrei zum Auto! Und dann nach Kals, um das andere Auto abzuholen.
Was soll ich sagen! Es begann lustig! Bernd, der kurz zuvor auf dem
Lasörling gewesen war (alle Achtung!), hatte Respekt vor dem Sessellift! Ziemlich
wortkarg fuhr er nach oben die vielen Fragen seiner Tochter habe überwiegend ich
beantwortet. Das Wetter spielte halbwegs mit: "Heiter" nennen die Meteorologen
eine Situation, wenn die Sonne zwar überwiegend scheint, aber immer mal wieder hinter
dicken weißen Wolken verschwindet. Immerhin, konstatierte ich befriedigt, keine
Regengefahr!
Ich durfte vorausgehen! Das hat mich enorm gebauchkitzelt. Ich als
Bergneuling fand mich bisher immer eher in der zweiten oder dritten Reihe wieder! Nun also
war ich der Pfadfinder und natürlich spornte mich das enorm an!
Na ja, wir haben diese Positionen dann wieder gewechselt, denn ich bin
halt langsam, wenn es steil wird. Und die wenigen Felsstufen vor dem Gipfel haben mir
schon einiges abverlangt. Aber natürlich ließ ich mich nicht entmutigen; ich wollte ja
unbedingt am Gipfelkreuz ankommen! Die Sonne verschwand alle fünf Minuten hinter den
Wolken, und um uns waberten weiße Nebel. Von dem Punkt an, wo der Abzweig zur Blauspitze
den Weg zur Sudetendeutschen Hütte verlässt, wird mir deutlich bewusst, wie steil und
schroff es ins Tal hinuntergeht. Fast bin ich dankbar, dass alle zwei Minuten dicke Watte
den Talblick verhüllt. Diese wabernden Nebel finde ich ausgesprochen spannend. Mühsam
ziehe ich mich an ein paar Felsstufen hoch und dann kaum zu glauben
überwinde ich trittsicher noch ein paar Felsen...
.... und stehe am Gipfelkreuz!!!
"Wundert Euch nicht!" warne ich schnell noch Lisa und Bernd. Und
dann lasse ich einen Juchzer in die Atmosphäre aufsteigen, der sich tief aus der
Magengrube seinen Weg bahnt und einfach raus muss! Ich hab's geschafft! Mit dieser tiefen
Freude kann ich kaum umgehen. Eine sehr ungewohnte Empfindung, aber überaus wohltuend.
Überaus angenehm!
Wir öffnen eine Art Tresor, der Gipfelbuch und Stempel birgt. Ich
schreibe ein paar Worte in das arg chaotische Gipfelbuch und drücke den Stempel auf meine
Freitag&Berndt-Karte. Mann, bin ich stolz!
Das Wetter meint
es nicht nur gut mit uns. Wir sitzen zwar in der Sonne, aber den Blick auf den
Großglockner trüben uns dicke Wolken, die so tun, als würden sie sich gleich verziehen,
aber dann doch stehen bleiben! "Macht er auf?" Auch andere Gipfelstürmer treibt
diese Frage um. Er macht nicht auf! Wir verbringen eine ganze Stunde an diesem
Gipfelkreuz, den Fotoapparat schussbereit. Es könnte ja sein, dass diese eine graue
Gipfelwolke sich tatsächlich verzieht ... Irgendwann geben wir es auf!
Schließlich müssen wir ja auch noch weiter über meinen
"Angstgrat" zum Weißen Knopf! Wir packen zusammen und steigen ein paar
Felsstufen wieder hinab, bis der Gratweg abzweigt. Bernd ist vorausgegangen und steht im
Fels wie ein Mahnmal. "Guck's dir an", sagt er zu mir, "Willst du da
gehen?". Ich taste mich auf seine Höhe vor, sehe mir das Felsenelend an und
sage tapfer: "Och ich geh mal voran!"
Wirklich, es war kein Problem! Ich fühle mich wie eine Gämse, als ich
den schmalen Weg entlang tapere. Immer ganz bewusst, dass es hier rechts und links steil
hinuntergeht. Trotzdem fühle ich mich sicher, wie auf meinem Heimatspazierweg auf 6
Metern über dem Meeresspiegel parallel zum Rhein! Ich muss noch ein wenig
"klettern" bis zum Weißen Knopf, bin dankbar, dass ich mich an ein paar
Stahlseilen ein wenig hochziehen kann, aber Angst? Nein, keine Spur davon. Ich kann nicht
beschreiben, welche Glücksgefühle mich durchströmen.
Die in den Fels gehauenen Stufen unterhalb des Weißen Knopfs
springe ich fast hinunter, das Herz leicht wie Federn. Dann der Grat zur Kalser Höhe,
einst mein "Schicksalsgrat": Ich merke gar nicht, wie steil es rechts und links
hinuntergeht. Mühelos setze ich einen Schritt vor den anderen. Ich muss mich
konzentrieren, um nicht in den Schafmist zu treten, der hier reichlich herumliegt. Ich
drehe mich um zu den anderen: "Passt auf, Schafscheiße. So viel, dass es gar nicht
so leicht ist, nicht hinein zu treten!" Lisa, die Zwölfjährige, lacht trocken auf:
"Du bist ja längst schon hinein getreten ..."!
So what! Mich kann nichts mehr erschüttern!
Weil ich bergab mittlerweile ziemlich fix bin, sind wir im Handumdrehen am
Kals-Matreier-Törlhaus angekommen. Noch weit mehr als zwei Stunden Zeit, ehe die letzte
Gondel talwärts abfährt. Wir gönnen uns eine Suppe. Dann begießen Bernd und ich unser
Gipfelerlebnis mit einem Schnapserl! Unser Gipfelerlebnis? Eigentlich war es meins! Ich
hab die Blauspitze "bezwungen" und dann auch noch den gefürchteten Grat
mühelos geschafft! Ich kann es noch gar nicht glauben und könnte laut lossingen!
"Mensch, Bernd!", sage ich ungefähr 20 Mal. Und ungefähr 20 Mal lächelt er
geduldig zurück: "Jau!" sagt er. Er versteht mich. Er kann es echt und wirklich
nachvollziehen. Und es ist schön, dass er, für den die Tour schon schön, aber ansonsten
eher ein Klacks war (kaum Höhenmeter!), sich an meiner Freude freut!
Der Weg vom Kals-Matreier-Törlhaus zum Goldried ist auch für mich ein
Klacks. Nun geht Lisa die Geduld ein wenig flöten. Verständlich: Sie hat eigentlich
wenig Bock auf Bergtouren und trotzdem diesen "Ausflug" mit Bravour bestanden.
Jetzt wird es "langweilig", also kann man ja versuchen, die Sache mit Quengelei
ein wenig interessanter zu machen! Meine süße Hannah, mittlerweile 14 und zu dieser Zeit
in einem Jugendzeltlager in Südfrankreich, hätte nicht anders reagiert!
Ich stoppe die verbalen Nervereien mit einer Warnung: "Kinder, die
quengeln, kommen mir nicht ins Auto! Und ihr wollt ja noch mit mir nach Kals zu eurem
Auto...." Sie kennt mich nicht gut genug, hihi. Sonst wüsste sie wie meine
Hannah längst dass ich natürlich niemals ein Kind einfach auf einem Parkplatz
zurücklassen würde.
Wir fahren mit der Gondel gemächlich hinunter nach Matrei, genießen den
wunderbaren Ausblick ins Virgental. Lisa fand den Sessellift spannender. Sie sagt das auch
und fängt sich einen merkwürdigen Blick ihres Vaters ein. Bernd fährt lieber
Gondel. Der luftige Sessellift von Kals war ihm doch ziemlich suspekt .... |
Der Sessellift von Kals-Großdorf zum Blauspitz-Restaurant
Grau in Grau: Nebelschwaden über der Blauspitze - es regnet Bindfäden
Blauspitze und Großglockner
Blauspitze, 2575 m
Gipfelkreuz der Blauspitze
Großglockner in Wolken
So kann
er aussehen...
Blick auf die Kalser Höhe
Der Grat zwischen Kalser Höhe und Weißem Knopf
Die Kabinenbahn zum Goldried
Rucksack im Auto: Tourende! |