Die Sucht nach dem Martyrium

50 Jahre nach seiner Erstbesteigung ist der Mount Everest noch begehrter als 1953. 500 Menschen wollen 2003 den höchsten Berg der Welt erklimmen. 175, die es vor ihnen versuchten, starben

Aprikosenkompott in 8500 Metern Höhe beseelt erwachsene Männer wie Kinder eine Zuckerstange. Das Glück währt kurz. Nach dem Imbiss hageln den beiden Extrembergsteigern wieder Eissplitter um die Köpfe. Der Sturm kreischt wie ein Expresszug im Tunnel. Tagestemperatur: etwa 25 Grad minus. Unerträglich langsam steigen der Neuseeländer Edmund Hillary und der Sherpa Tensing Norgay in eine Welt, die Menschen abweist und den Beinamen Todeszone verdient. Die Felsenstufe, die ihnen kurz vor dem Gipfel Respekt abringt, wird später nach Hillary benannt, der der jungen britischen Königin Elizabeth II. ihren Krönungstag versüßt ("Hillary-Step"). Ein „Times“-Reporter schickte verschlüsselte Nachrichten per Boten und durch den Äther nach Großbritannien. Die entschlüsselte Meldung treibt auch noch die Briten auf die Straße, die die Inthronisationsfeiern eher kalt gelassen hätten. In Katmandu wird Sherpa Norgay später fast wie ein Gott geehrt. Der Mount Everest ist erobert! 29. Mai 1953.

„We knocked the bastard off“ („Wir haben den Bastard erledigt“) ist als cooler Kommentar des Bienenzüchters Hillary aus Auckland überliefert, als er mit Norgay auf dem Rückweg den Kameraden auf dem Südsattel entgegenstolperte. Darum ging es: Den „Bastard“ zu überlisten, den höchsten Berg der Welt. Die Briten, besessen von der Idee, als erste Nation auf dem Gipfel zu stehen, sahen großzügig darüber hinweg, dass ein Neuseeländer und ein Nepalese den 8850 Meter hohen Erdpunkt im Himalaja zuerst erreichten. Der Neuseeländer stand ihnen offensichtlich näher, sonst hätte sich nicht eine schier endlose Diskussion entzündet, wer als Erster die wenige Quadratmeter große Kuppe auf dem Dach der Welt betrat. Die Söhne der beiden Gipfelstürmer, beide längst auch Everesteroberer, interessiert das heute nicht mehr: Die Erstbesteiger hätten verabredet, nicht zu verraten, wer der Erste war, wollen Peter Hillary und Jamling Norgay der Nachwelt vermitteln. Die Väter der beiden verstanden sich als Team und waren ihrer Zeit damit weit voraus. Die Leistung der Sherpas blieb über Jahre unterbewertet. 

John Hunt, dem Leiter der 13 Mitglieder und 350 Sherpas starken britischen Expedition von 1953, schwante schon damals, dass der Gipfelsieg, um den Briten, Schweizer, Franzosen und Amerikaner so erbittert gerungen hatten wie die Deutschen um den Nanga Parbat, nicht das Ende aller Bemühungen, sondern eher ein Anfang war. Hunt sah ungeheuren Spielraum für Abenteuer auf dem Dach der Welt. Er sollte Recht behalten. 1659 Menschen, darunter 21 Deutsche, haben den höchsten Berg der Erde bisher erklommen. Sogar ohne zusätzlichen Sauerstoff, wie 1978 als erste der Tiroler Bergführer Peter Habeler und der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner.

"Weil er da ist"

Inzwischen werden die Rekorde knapp. 15 Routen auf den Gipfel sind erforscht. Abfahrten auf Skiern, „Abstieg“ per Paraglider, der jüngste Gipfelsieger, der älteste, ein Blinder, einer mit Beinprothese – die Rekordgier verkommt zum Zirkus der Besessenen. Warum wollen immer mehr Menschen diesen Berg besteigen? „Weil er da ist“, erklärte vor 82 Jahren der britische Lehrer und Bergsteiger George Mallory, der 1924 zunächst verschollen war, dessen Leiche 1999 entdeckt wurde. „Weil er der höchste ist, ganz einfach“, sagt Jochen Hemmleb, Historiker und Everestkenner, und der amerikanische Journalist Jon Krakauer schrieb von einer „magischen Anziehungskraft“ des Berges, den die Tibeter als Sitz der Göttinmutter Chomolungma verehren. Mallory gibt der Nachwelt bis heute Rätsel auf. Als Conrad Anker seine Leiche fand, erhofften die Historiker sich Aufklärung. Hat er den Everest 29 Jahre vor Hillary und Norgay bestiegen? Experten vermuten: nein! Mallorys Fotokamera könnte das Rätsel lösen, doch sie ist bis heute verschollen. Der Berg hütet sein letztes Geheimnis.

Es gibt 100 Gründe, auf dem Everest zu sterben, auch heute noch. 175 Menschen haben ihren Höhenrausch mit dem Leben bezahlt. Fast jeder Alpinist muss beim Auf- und Abstieg die Begegnung mit tiefgefrorenen Leichen verkraften. Die Erstbesteiger feierte die Welt als Helden. Heute nimmt kaum jemand Notiz davon, wenn erneut ein Mensch neben den windgepeitschten Gebetsfahnen den Pickel als Siegeszeichen zum Himmel reckt und dann nach Hause telefoniert. Der heutige Technikstandard bei Ausrüstung und Kommunikation erleichtert die Eroberung von Höhen, in denen Jumbo-Jets fliegen. Einzig das Wetter kann der Mensch nicht beeinflussen. Plötzliche Stürme mit 200 Stundenkilometern Geschwindigkeit, Lawinen und Temperaturstürze auf hohe Minusgrade fordern ihre Opfer. Genauso wie Leichtsinn, falscher Ehrgeiz, Erfolgsdruck, Selbstüberschätzung.

Der Everest ist bergtechnisch leichter zu besteigen als etwa die Eiger Nordwand, aber wegen der Höhe zermürbt ein Aufenthalt an seinen Flanken den menschlichen Organismus. Sauerstoffmangel, Eiseskälte und vieles mehr setzen den Bergsteigern zu. Der Kopf dröhnt, der Verstand schrumpft. Die eisige Luft zerschneidet beim Atmen die Lunge. Trockener Husten kann Rippen brechen. Die Verdauung funktioniert nicht, der Körper zehrt sich in dieser Höhe selber aus. An Schlaf ist nicht zu denken, Essen wird zur Qual.Ein Martyrium, das die meisten Menschen abschreckt, aber gleichzeitig immer mehr Abenteurer herausfordert.

Die Eroberung des Nutzlosen

Der Trip der Tollkühnen begann in den 90er Jahren, als die ersten Bergführer anboten, Laien auf den Everest zu schleppen. Für bis zu 65 000 Euro pro Person. Heute so bequem im Reisebüro oder Internet buchbar wie Ferien auf dem Bauernhof. Der texanische Ölmillionär Dick Bass weckte 1985 mit seiner „Seven Summit“-Idee die Sammelleidenschaft der Reichen und Fitten. Vor allem in Amerika galt es unversehens als schick, die sieben höchsten Berge aller Kontinente zu erobern. Diese Sieben stehen auch in Messners Gipfelbuch, er hat sie als erster ohne Flaschensauerstoff bezwungen. 

Der Ausnahme-Alpinist von Weltruhm gilt heute als der größte Kritiker der „Everest für jedermann“-Manie. Messner prangert den gewinnorientierten „Ausverkauf der dünnen Luft“ an, er beklagt, dass der Berg als Tummelplatz für die „ausgefallensten Inszenierungen“ herhalten muss und zum Konsumprodukt verkommt. Selbst der längste Stau am Gipfel werde inzwischen als Rekord vermerkt. „In einer vernetzten Welt wird zuletzt auch die Arena der Einsamkeit allgemein zugänglich, also banal“, schrieb Messner 2001 in der „Süddeutschen Zeitung“. Vor zehn Tagen bekräftigte er in „Bild am Sonntag“, es spiele keine Rolle, „ob da oben jemand steht oder nicht. Bergsteigen ist die Eroberung des Nutzlosen, dazu bekenne ich mich.“ Damit steht er nicht allein.

Peter Meier-Hüsing, der die Besteigung des britischen Bergpilgers Maurice Wilson von 1934 in dem Buch „Wo die Schneelöwen tanzen“ rekonstruierte, zitiert den La-ma Ngawang Tensing Norbu, damals Abt des Rongbuk-Klosters im Süden Tibets: „Maurice Wilson, …ich wünsche dir Glück… Trotzdem bleibt es natürlich ein unnützes Tun!“

Die Frage von Sinn und Unsinn stellt sich jedem Bergsteiger irgendwann, nicht nur am Mount Everest. Seine Beziehung zum Berg muss jeder selber finden, alle Beweggründe sind vorwiegend persönlicher Natur. Auch Messner wird seine vielfältigen Extremerfahrungen auf den 14 Achttausendern, die er alle bezwang, nicht missen wollen.

Wofür sind sie gestorben?

Die Nutzlosigkeit aber wird immer dann zur quälenden Frage, wenn der Berg seine Opfer fordert. „Wofür sind sie gestorben?“ fragte der amerikanische Autor Jon Krakauer sich und den Rest der Welt. Er beschrieb als erster die tragische kommerzielle Expedition im Mai 1996, bei der fünf Menschen starben („In eisige Höhen“). In jenem Jahr, das dem Everest die bisher traurigsten Schlagzeilen eintrug, ließen insgesamt 15 Menschen ihr Leben auf dem Dach der Welt.

Unter den Toten waren auch die beiden erfahrenen Bergsteiger Scott Fischer und Rob Hall. Beide hatten Anfang der 90er Jahre damit begonnen, reiche und mäßig trainierte Laien auf den nach oben konkurrenzlosen Gipfel zu führen. Sie brauchten Publicity, um ihre konkurrierenden Unternehmen zu etablieren, und jeder hatte sich 1996 seine „goldene Gans“ eingeladen. Über Hall sollte Krakauer im US-Reisejournal „Outside-Magazin“ berichten, über Fischer die New Yorker Millionärin Sandy Hill Pittman im Internet. Die exzentrische Lady wollte der New Yorker Schickeria mit Internetberichten, Faxen und Telefonaten aus mehr als 7000 Metern Höhe imponieren. Ihre gigantische Ausrüstung – Satellitenschüssel, Sat-Telefon, Laptop, Filmkameras, Solaranlage – schleppte der Sherpa Lopsang Jangbu von Camp zu Camp. Auf 7924 Metern versagte zu allem Überfluss die Technik. Am Gipfeltag zog er sogar Pittman selber am Seil hinter sich her. Völlig entkräftet war er nicht mehr in der Lage, am Gipfelgrat die Seile zu fixieren, was eigentlich seine Aufgabe war.

Als beim Abstieg ein gewaltiger Schneesturm losbrach, kämpften die beiden fusionierten Teams, mangels Leistungskraft ohnehin schon in Zeitnot, um ihr Leben. Für acht Menschen kam jede Rettung zu spät. Vor allem eins zeigte sich in vielen Büchern, die Überlebende über diese Expedition schrieben: Rettung in der Todeszone ist nicht möglich. „Da könnten wir ebenso gut auf dem Mond sitzen“, hatte Rob Hall sein Team ermahnt, als er noch lebte. Vergebens.

Letztlich war auch diese Katastrophe nutzlos. Der Wahnsinn extremer Abenteuerlust erschütterte die Welt nur kurz – schon ein Jahr später versammelten sich allein im Basislager am Khumbu-Eisbruch erneut mehr als 200 Bergsteiger mit Gipfelambitionen. Seit Anfang April warten mehr als 500 Bergsteiger auf den Gipfelsturm. Darunter auch die Bad Heilbrunner Mount Everest Jubiläumsexpedition, vier Deutsche und drei Schweizer. Sie wollen genau am 29. Mai um 11.30 Uhr auf dem Gipfel stehen – wie vor 50 Jahren Hillary und Norgay. Die exakte Terminierung einer Mondlandung ist nur halb so schwierig wie ein minutengenauer Gipfelsieg.

Der Mythos Everest schwankt zwischen Hybris und Leistungswundern, zwischen egomanen Selbsterfahrungskicks und der Vergänglichkeit allen Seins. Und alle Extreme jederzeit zum Greifen nah: Im Internet dokumentieren Bergpassionisten aus aller Welt Tag für Tag das Leben am Everest – und das Sterben. 

©imke habegger/general-anzeiger bonn 2003 

NASA-Foto von Everest und Himalaja

Blick aus dem Weltraum auf Mt. Everest und Umgebung

 

 

 

 

 

 

 

 

„Die Mikaru (Weißaugen) sind wie das Vieh. Sie sind zufrieden, wenn sie den ganzen Tag ziellos umherwandern können. Sobald das Gelände etwas schwieriger wird, muss man furchtbar aufpassen, dass sie nicht abstürzen. Aber wenn man sie gut füttert, geben sie eine Menge Milch (Geld).“

Aussage einer Sherpa in Namche Bazaar, Nepal, über westliche Bergtouristen. Zitiert von Jamling Norgay in seinem Buch „Auf den Spuren meines Vaters“

 


 

 

 

 

 

Wie auf dem Mond: Alpinist am Gipfel

 

 

 

 

 

 

 

Foto: privat

Imposant: Chomolungma

 

 

 

 

 

 

Bergtechnisch leicht zu besteigen, aber die Höhe ist der Killer am höchsten Berg der Welt